Interview • 29.11.2012

„Konsumenten sagen in der Marktforschung nicht die ganze Wahrheit“

iXtenso-Interview mit Dr. Christian Scheier der decode Marketingberatung GmbH

Dr. Christian Scheier: Man sieht die Welt aus Kundensicht anders, wenn man...
Dr. Christian Scheier: 'Man sieht die Welt aus Kundensicht anders, wenn man verstanden hat, wie Menschen wirklich entscheiden.'
Quelle: decode Marketingberatung GmbH

Dr. Christian Scheier ist Marketingberater und Autor. Nach über zehn Jahren Grundlagenforschung nutzt er sein Wissen über die Neurologik der Kaufentscheidungen heute, um die veralteten Denkmuster in Unternehmen zeitgenössisch zu updaten.

Herr Dr. Scheier, für Sie als Marketingberater, welche Vorteile haben Neuromarketing-Strategien gegenüber den klassischen Marketing-Strategien?

Neuromarketing, oder eher die Neurowissenschaft allgemein, kann einen Mehrwert für die Marketingpraxis liefern, da man versteht, welche Grundprinzipien im Gehirn bei einer Kaufentscheidung, bei der Reaktion auf Marken oder bei Preispromotionen wirken.

Der Vorteil den klassischen Marketing-Strategien gegenüber ist, dass wir dank neurologischer Untersuchungen nachvollziehen können, wie Menschen Kaufentscheidungen treffen. Das ist der eigentliche Mehrwert des Neuromarketings. Diese wissenschaftliche Basis schafft Vertrauen in Marketing-Strategien, gerade auf Entscheiderebene. Denn einer aktuellen Umfrage zufolge glauben weltweit 70 Prozent der CEO’s, dass ihr eigenes Marketing keinen Mehrwert für das Unternehmen schafft. Aber seit Daniel Kahnemann 2002 den Nobelpreis für seine Forschung über die Entscheidungsfindung des Menschen bekommen hat, haben wir ein allgemeines – und auf Führungsebenen akzeptiertes – Marketing-Modell, das auch wieder zu mehr Vertrauen in Marketing-Strategien geführt hat.

Können Sie dieses neue Modell im Bezug auf Kaufentscheidungen kurz erläutern?

Ein wichtiger Mechanismus ist der, dass bei Kaufentscheidungen im Gehirn zwischen Belohnung und Schmerz abgewogen wird. Das Belohnungszentrum im Gehirn springt immer an, wenn wir etwas haben wollen oder uns zu etwas oder jemandem hingezogen fühlen. Bei Produkten spielen hierbei die Marke und das Markenempfinden eine entscheidende Rolle. Denn auf Einkäufe bezogen aktiviert der Preis des Wunschobjekts im Gehirn die Schmerzregion. Daher muss der Wert, der im Gehirn mit der Marke des Produktes verbunden ist, so hoch sein, dass er den Schmerzfaktor überwiegt und es zu einem Belohnungsempfinden kommt. So entsteht der lustvolle Kauf eines Vier-Euro-Starbucks-Kaffees.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie Unternehmen dahingehend beraten, Neuromarketing in ihr bisheriges Marketingkonzept zu integrieren?

Das Wichtigste ist es dem Kunden das auf dem Nobelpreis basierende Entscheidungs-Modell und die daraus resultierenden Marketing-Strategien vorzustellen. Anschließend wenden wir die Erkenntnisse dann individuell auf das Unternehmen an.

Welche Fragen und Themenbereiche interessieren Ihre Kunden hierbei am meisten?

Die meisten Fragen werden mir zur Funktion des Gehirns gestellt. Sobald dann verstanden wurde, wie es bei Kaufentscheidungen funktioniert, interessiert die Unternehmen, wie die Kunden ihre Produkte wirklich wahrnehmen. Viele haben nämlich schon lange das Gefühl, dass die Konsumenten in der Marktforschung ihnen nicht die ganze Wahrheit erzählen. Nicht weil sie nicht wollen, sondern weil sie nicht können, denn ein Großteil unserer Kaufentscheidungen wird unbewusst gefällt.

Wie gehen Sie dann mit komplizierten Kundenfragen oder -anliegen um?

Wir spekulieren nicht, sondern antworten immer streng wissenschaftlich. Wenn wir einmal auf eine Frage keine Antwort haben, setzen wir zusammen mit dem Kunden oder Konsumenten ein Experiment oder eine Forschung auf. Dafür kooperieren wir mit einigen namhaften Institutionen. Anschließend bereiten wir die Ergebnisse so auf, dass sie für den Kunden, der oft Laie auf dem Gebiet der Neurowissenschaft ist, verständlich und umsetzbar sind.

Wie erfolgreich sind die Unternehmen und Händler im Anschluss?

Wir haben bisher noch keinen  Kunden verloren, also scheinen sie zufrieden zu sein. Aber es ist immer schwer, den Erfolg des Marketings zu belegen. Ein Erfolgsindikator ist es, wenn sich der Abverkauf der Produkte nach einem Marken-Relaunch signifikant erhöht.

Was ich persönlich sehr schätze und entscheidend finde ist, wenn die Kommunikation im Unternehmen anschließend effizienter und konstruktiver funktioniert. Erfolg ist es auch, wenn im Unternehmen weniger nach subjektivem Geschmack und Gutdünken über Neuerungen in Werbung oder Verpackungen entschieden, sondern nach neurologisch validierten Prinzipien gehandelt wird. Diese Prinzipien müssen auch auf jeder Ebene im Unternehmen verstanden werden. Denn so wächst die unternehmerische Gesamtzufriedenheit und die Flop-Rate von Innovationen kann unter Einbeziehung von neurobiologischen Erkenntnissen sinken. Denn nach wie vor scheitern acht von zehn Produkten!

Gibt es einfach umzusetzende Tipps, die Sie Händlern geben können, die sich nicht tiefgreifend mit dem Thema befassen können?

Man kann keine Tipps und Tricks anwenden, wenn man das System dahinter nicht verstanden hat. Dafür muss der Glaube darüber, wie Menschen entscheiden, einfach ein Update erhalten. Händler müssen das alte Modell von „Emotion vs. Ratio“ ablegen. Und das geht am einfachsten, wenn sie ein Buch, etwa das von Nobelpreisträger Kahnemann, zu dem Thema lesen.

Man sieht die Welt aus Kundensicht anders, wenn man verstanden hat, wie Menschen wirklich entscheiden. Erst dann können Tipps, etwa über richtige Preiskommunikation gewinnbringend und nachhaltig angewendet werden.

Wo sehen Sie die Disziplin in zehn bis zwanzig Jahren?

Ich denke, dass der Fokus von den Tools, etwa die zur Messung von Gehirnströmen, weggehen wird, denn inzwischen haben wir mehr als genug Daten. Der weitere Forschungsbedarf liegt darin, herauszufinden, warum Menschen tun, was sie tun. Durch Zunahme der Erkenntnisse aus anderen Disziplinen wie der Evolutionspsychologie, die sich auch gerade mit dem Thema Konsum beschäftigt, werden wir dieses Entscheidungs-Modell weiter mit Forschungsergebnissen anreichern und fundieren können.

Welche Rolle werden Internet, Smartphones und die Neuen Medien dabei spielen?

Die neuen Medien werden in Zukunft eine große Rolle spielen. Hier wird sich auch letztendlich das Modell der Markenkommunikation ändern. Wir sprechen schon heute nicht mehr so stark über Neuromarketing, sondern eher über Verhaltensökonomie, wenn es um Smartphones und das Internet geht. Menschen funktionieren immer in dem Kontext ihrer Umgebung. Die neuen Medien sind einer davon. In Zukunft wird es verstärkt darum gehen, weitere Schnittstellen zu schaffen, um Menschen Mehrwerterlebnisse im Konsum zu ermöglichen.

Das geht allerdings auch in die andere Richtung. Es ist bekannt, dass zu wenig gespart wird. Es ist für unseren Autopiloten im Gehirn eben viel schöner, jetzt etwas Tolles zu besitzen, als das Geld für später zurück zu legen. Aber auch diese Verhaltensbarrieren zum Sparen kann man dem modernen App-Kontext anpassen. Es gibt eine Spar-App, die zum Impuls-Sparen anregt. Einmal gedrückt, geht ein bestimmter Geldbetrag auf das Sparkonto. Man nennt das im englischen „Nudging“ (zu übersetzen etwa mit „stubsen“). So wird durch eine App ein Entscheidungsprozess welcher Art auch immer angestoßen und der Autopilot, der uns nicht an unsere zukünftigen Finanzen denken lässt, wird in eine andere, vernünftigere Richtung „gestubst“. 

Interview: Elisabeth Henning, iXtenso.com

Themenkanäle: Handel, Marketing-Planung

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