Den höhenverstellbaren Bürostuhl mit Rückenstütze verbindet wahrscheinlich jeder mit dem Stichwort „Ergonomie“. Welche Herausforderungen sich aber bei der ergonomischen Gestaltung von Arbeitsplätzen und -prozessen im Einzelhandel auftun und warum es sich für Verantwortliche rechnet, sich diesem Thema zu widmen, erklärt Dr. Stephan Sandrock vom Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e. V. – ifaa im Interview.
Herr Sandrock, womit beschäftigt sich die Ergonomie allgemein?
Die Ergonomie setzt sich mit dem Zusammenwirken von Mensch und Arbeit auseinander. Ergonomie ist ein Kunstwort, das sich aus den griechischen Wörtern 'ergon' für Arbeit und 'nomos' für Wissenschaft ableitet. Dahinter steht also der oft synonym verwendete Begriff 'Arbeitswissenschaft'.
Das grundsätzliche Ziel der Ergonomie ist es, die Arbeit an den Menschen beziehungsweise an die Leistungsvoraussetzungen des Menschen anzupassen, sie also menschengerecht zu gestalten. Die Ergonomie hat dazu immer zwei Ziele gleichermaßen im Fokus: zum einen die Steigerung der Wirtschaftlichkeit und zum anderen die Steigerung des Wohlergehens der Beschäftigten.
Nach welchen Kriterien kann man Arbeit aus Sicht der Arbeitswissenschaft bewerten?
Das wären zum ersten Fragen nach der Ausführbarkeit der Tätigkeit: Kommen Menschen ohne Hilfsmittel an benötigte Gegenstände? Sind Gewichte so begrenzt, dass sie gehoben werden können? Hier sind also physikalische Eigenschaften des Menschen, zu berücksichtigen wie Körperkräfte und Größen. Die zweite Ebene ist die Schädigungslosigkeit. Das heißt, die Arbeit muss so gestaltet werden, dass sie auch bei dauerhafter Ausübung die menschliche Gesundheit nicht schädigt. Ein dritter Punkt ist die sogenannte Beeinträchtigungsfreiheit. Hier geht es um Aspekte wie psychische Belastung. Der vierte Aspekt ist im Bereich Persönlichkeitsförderlichkeit und Zufriedenheit verortet, der mit soziologischen oder psychologischen Methoden bewertet werden kann.
Dr. Sandrock: „Sinnvollerweise stelle ich Überlegungen zur ergonomischen Gestaltung bereits bei der Planung von Arbeitssystemen an, damit ich später nicht nachbessern muss. Das spart Kosten.“
Wenn solche Faktoren bei der Arbeitsplatzgestaltung nicht beachtet werden, welche Folgen kann das für die Mitarbeiter haben?
Möglicherweise fängt das mit Unzufriedenheit der Angestellten an, wenn diese benötigte Gegenstände nicht erreichen und somit ihre Arbeit nicht vernünftig erledigen können. Sind Zwangshaltungen erforderlich oder geht es um Tätigkeiten, wo wiederholt große, schwere Dinge gehoben werden müssen, kann es langfristig auch zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen, beispielsweise des Muskel-Skelett-Apparates, kommen. Solche Symptome kann man zwar nicht immer eins zu eins von der Arbeitsgestaltung ableiten, aber mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten führt eine nicht-ergonomische Gestaltung zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen.
Warum lohnt es sich für einen Arbeitgeber, in die ergonomische Gestaltung eines Arbeitsplatzes zu investieren?
Berücksichtigt man die Leistungsvoraussetzungen der Beschäftigten, hat das einen positiven Einfluss auf die Arbeitsausführung. Wenn Arbeitsflüsse zügiger ablaufen können, kann das direkte wirtschaftliche Vorteile haben. Langfristig macht sich eine ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes bezahlt, weil Arbeitnehmer möglicherweise gesünder und zufriedener sind, und dadurch länger und effizienter ihre Arbeit verrichten können.
Im Einzelhandel teilen sich häufig mehrere Mitarbeiter dieselben Arbeitsplätze. Was gilt es daher zu beachten, wenn ein Arbeitsplatz in dieser Branche neugestaltet wird?
Wenn man es wissenschaftlich betrachtet, dann sollte derjenige, der einen Arbeitsplatz einrichtet, zunächst überlegen: Welche Beschäftigten arbeiten dort später und was sind deren Eigenschaften? Beschäftige ich beispielsweise Frauen aus Süd- und Männer aus Nordeuropa, dann habe ich wahrscheinlich eine erhebliche Bandbreite in der Körpergröße. Ein weiteres zu berücksichtigendes Maß ist die Körperkraft: Welche Kräfte müssen für die Tätigkeit aufgebracht werden?
Wenn also Menschen mit sehr unterschiedlichen Maßen am selben Arbeitssystem arbeiten sollen, lohnt es sich über höhenverstellbare Bedienelemente, Schreibtische, Stühle und dergleichen mehr nachzudenken. Außerdem kann ich überlegen, Mitarbeiter mit technischen Hilfsmitteln wie Hubwagen zu unterstützen.
Was ist bei der Einrichtung der typischen Kassenarbeitsplätze zu bedenken?
Gerade die Arbeit an Supermarkt-Scannerkassen ist natürlich repetitiv. Auch wenn dort unterschiedliche Produkte und keine schweren Lasten zu handhaben sind, könnte man organisatorisch für einen Belastungswechsel sorgen. Aufgrund der hohen Wiederholfrequenz dieser Tätigkeit ist es sinnvoll, die Aufgaben zu alternieren, damit nicht ein Mitarbeiter acht Stunden lang die gleichen Bewegungen ausführt.
Davon zu trennen sind Arbeitsplätze in der Bekleidungsbranche oder in Warenhäusern, die eine höhere Abwechslungsrate bieten. Dabei handelt es sich in der Regel um Steh-Arbeitsplätze, wodurch sich andere ergonomische Fragestellungen ergeben. Man könnte hier über Stehhilfen nachdenken, um zu einer Entlastung des Muskel-Skelett-Apparates beizutragen. Hilfreich sind auch ergonomische Trittmatten oder Bodenauflagen, die für unwillkürliche Bewegungen sorgen.
Auch beim Arbeiten am Kassenband stellen sich Fragen wie: Sind Band und Geräte so angeordnet, dass die Mitarbeiter die Warenzuführung ergonomisch vornehmen können? Müssen sie Produkte anheben oder können sie diese am Scanner vorbeischieben, so dass sie nur wenig Kraft aufbringen müssen? Müssen die Mitarbeiter sich stark zur Seite drehen, um dem Kunden die Produkte zu reichen?
Welches Vorgehen empfehlen Sie Einzelhändlern, die sich mit dem Thema auseinandersetzen?
Rechtlich ist der Einzelhandel – wie andere Wirtschaftszweige auch – verpflichtet, eine sogenannte Gefährdungsbeurteilung durchzuführen, also die Arbeitsbedingungen hinsichtlich möglicher Gefährdungen für die Mitarbeiter zu bewerten. Dazu gehören nicht nur Mobiliar und Geräte, sondern auch Arbeitsumgebungsbedingungen wie Lärm, Beleuchtung oder Durchzugsluft im Kassenbereich.
Was Verantwortlichen darüber hinaus helfen kann, sich einen ersten Überblick über ergonomische Gestaltung des Arbeitsbereichs zu verschaffen, sind Checklisten. Eine allgemeine Ergonomie-Checkliste stellt das ifaa zur Verfügung. Sie finden außerdem Tools und Informationen ihrer Berufsgenossenschaften (Dokumente zur Ergonomie und Arbeitsgestaltung der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik BGHW).
Wichtig ist auch, die Mitarbeiter über Möglichkeiten zur Anpassung des Arbeitssystems zu informieren. Oftmals werden ergonomische Hilfsmittel zur Verfügung gestellt, die Mitarbeiter benutzen sie aber nicht. Man sollte also auch dafür sorgen, dass das Personal entsprechend unterstützt und geschult wird.
Und schließlich ist es ratsam, bei der Einrichtung von Arbeitsplätzen die Erfahrungen der Beschäftigten zu berücksichtigen. Die wissen ja, wie bestimmte Handgriffe zu tätigen sind. In der Industrie werden oft im Rahmen von Workshops mit Mitarbeitern zusammen neue Arbeitssysteme gestaltet oder verbessert.