Bericht • 01.08.2011
Modernes Shopping in historischer Nachbarschaft
Die Innenstädte sind im Wettstreit mit der Grünen Wiese: Hier verwinkelte Gassen und heimelige Atmosphäre – dort große Einkaufszentren mit kostenlosen Parkplätzen. Viele Händler empfinden den Denkmalschutz als Hemmnis. Oft sind es alteingesessene Familienbetriebe, die mit viel Liebe – und noch mehr Geld – ihre Geschäfte modernisieren. Doch wie bringt man große moderne Einkaufsflächen in die alten Innenstädte?
Bis kurz nach der Jahrtausendwende war der Schlosspark in Braunschweig eine Stadtbrache. Ende der fünfziger Jahre hatte man das kriegsbeschädigte Schloss abgerissen. Die in den Sechzigern gepflanzten Bäume bildeten inzwischen eine grüne Zone. Zuletzt war der Park jedoch auch ein Treffpunkt von Junkies. Nach dem Vorbild der Dresdner Frauenkirche wünschten sich geschichtlich interessierte Bürger den Wiederaufbau des Schlosses, aber ohne eine adäquate Nutzung gab es keine Investoren. Doch schließlich fand man einen Weg: Ein modernes Einkaufszentrum hinter dem wieder aufgebauten Schloss.
Braunschweig: Shopping Center hinter dem neuen Schloss
Darf man das? Darf man ein altes Gebäude wieder aufbauen, ohne die alten Steine? Die Frage diskutiert man auch beim Stadtschloss in Berlin. In Dresden waren wenigstens die alten Trümmer noch da. In Braunschweig gab es nur wenige Reste. Alt bauen aus dem Nichts? Von „Kulissenarchitektur“ sprachen die Kritiker, Grüne und SPD im Stadtrat. Dass schließlich die ECE als Betreiber des Shopping-Centers den Zuschlag erhielt, bestärkte sie nur in ihrer Kritik am Kommerz zulasten der Historie. Im EuroShop-Interview äußert auch Dr. Ursula Schirmer, Sprecherin der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, ihr Unbehagen.
Marianne Weigmann aus dem benachbarten Wolfenbüttel gehörte zu den Kritikern. Die pensionierte Lehrerin kennt sich aus mit der Geschichte der Welfen, ist häufig im nahen Braunschweig und engagiert sich in geschichtlich interessierten Zirkeln. Sie hat alle Artikel rund um den Schloss-Aufbau gesammelt. „Braunschweig hat viel gewonnen mit dem Schloss.“ So lautet heute ihr versöhnliches Fazit.
Die „Schloss-Arkaden“ sind ein Einkaufszentrum in moderner Glas-Architektur, eröffnet im März 2007: Verkaufsfläche rund 30.000 Quadratmeter auf drei Ebenen, 150 Geschäfte, Restaurants, Cafés und eine Gourmet-Markthalle. Schön findet Marianne Weigmann dies nicht, aber sie beobachtet, dass in der Stadt neue Besucherströme entstanden sind. Einige Leute nutzen das Center als Abkürzung auf ihren Einkaufswegen.
Ihre Sorge galt vor allem der städtischen Bücherei und dem Stadtarchiv. Sie fanden im neu aufgebauten Schloss viel größere Räume mit moderner Technik zur Bewahrung der Bestände. Im Nordflügel gibt es jetzt ein Museum, im roten Saal finden Aufführungen statt. Eine Bürgerinitiative sammelte Spenden für den Umzug der Reiterstandbilder der Herzöge Carl Wilhelm Ferdinand und Friedrich Wilhelm. Sie stehen seit Juli 2007 wieder auf dem Platz vor dem Schloss. Dieser wurde neu gestaltet, der Durchgangsverkehr reduziert. „Jetzt ist der Platz zu einem belebten Treffpunkt geworden“, sagt Marianne Weigmann.
Statt „Puppenstuben-Architektur“ auch Neues zulassen
Wie man den Spagat schafft zwischen alt und neu, damit beschäftigt sich auch Wilfried Brückner. Der 70-jährige Bau-Ingenieur war mehr als zwei Jahrzehnte lang Baubürgermeister in Schwäbisch Hall. Die ehemals freie Reichsstadt im Nordosten von Baden-Württemberg hatte bereits in den siebziger Jahren eine Farbgestaltungssatzung für die historische Innenstadt. Brückner erregte überregional Aufsehen, weil er auch moderne Bauten im alten Ambiente zuließ.
Als in der Fußgängerzone der unscheinbare Zweckbau der Landeszentralbank frei wurde, setzte Brückner den Abriss durch. Gebaut wurde ein Gebäude, das die Einheimischen „Glashaus“ nennen, doch was am Anfang abwertend gemeint war, ist heute akzeptiert. Vollständig umgeben von Glas, spiegeln sich die benachbarten Fachwerkhäuser in dem Giebelgebäude. Zunächst zog die Modekette Hettlage ein, nach deren Insolvenz fand sich kein Nachmieter, es kam die Stadtbibliothek. Die damit verbundenen Besucherströme beleben die ganze Fußgängerzone.
Brückner hält nicht viel von „Puppenstubenarchitektur“. Das bedingungslose Festhalten am Alten könnten sich nur wenige Städte leisten, wie etwa Rothenburg, die nur vom Tourismus leben. Daher müsse man in fast allen alten Städten die Mitte „mit wertvoller Architektur bewusst weiter entwickeln“. Dabei laufe man natürlich Gefahr, mit moderner Formensprache das Alte zu überdecken. Das Moderne gelte oft als weniger dauerhaft. Brückner warb seinerzeit durchaus für die Belange heimischer Händler, die ihre alten Häuser gern ausbauen wollten.
Als der altgediente parteilose Oberbürgermeister einem Jüngeren von der SPD Platz machen musste, sah Brückner Ende der neunziger Jahre auch seine Zeit des Abschieds gekommen. Die neue, junge Mannschaft wollte vieles anders machen. Brückner spricht darüber ohne böse Worte. Er lebt heute in Stuttgart, sei nicht mehr oft in der Stadt. Seine Ratschläge für alle Stadtplaner: Sie müssen auf die Menschen zugehen, im Konsens Neues entwickeln, dabei durchaus eigene Ideen zur Diskussion stellen. Brückner vermisst jedoch vielerorts eine umfassendes Quartier-Management. Stattdessen würde nur kleinteilig geplant – rund um Areale, die ein Investor gerade ins Auge fasst. „Wie sonst auch in der Kultur ist das Geld knapp geworden für die Baukultur“, so Brückners Fazit.
Schwäbisch Hall: Modernes Einkaufsviertel in der alten Innenstadt
Nicht äußern will er sich zum neuen „Kocherquartier“ in Schwäbisch Hall. Auf dem Gelände der ehemaligen Jugendvollzugsanstalt unmittelbar an der alten Stadtmauer gelegen, wurde im April ein modernes Einkaufsviertel eröffnet – die größte Baumaßnahme in der Kernstadt seit dem Stadtbrand von 1728. Nachdem draußen auf der grünen Wiese zwei neue Einkaufsgebiete entstanden waren, wurde es immer stiller in der alten Stadt. Jahrelang diskutierten die Stadträte über eine Nutzung des Gefängnisses, das im 19. Jahrhundert vom württembergischen König gebaut worden war.
In den ersten Plänen wäre viel mehr von der alten Substanz erhalten geblieben. Auf schwierigem Untergrund, direkt neben dem Kocher, dem Fluss, der durch die Stadt fließt, verbaute man 43.000 Kubikmeter Beton und 6.500 Tonnen Stahl. Für rund 100 Millionen Euro entstanden eine Tiefgarage, 13.000 Quadratmeter Verkaufsfläche und direkt daneben die neue Zentrale der VR-Bank. Bauherr beim „Kocherquartier“ war die städtische Wohnungsbaugesellschaft. Sie, und nicht ein Center-Betreiber, ist für den Betrieb verantwortlich. Wert legte man auf „Ankermieter“, welche für Besucherströme in dem neuen Quartier sorgen sollen. Zu den Mietern gehören C&A, dm-Drogeriemarkt, Douglas, Görtz, Gerry Weber, New Yorker und Tom Tailor. Kritiker sehen darin den Einheits-Mix, den es in vielen Städten gibt. Doch langsam ändern sich wie in Braunschweig die Laufwege in der Stadt. Ob die Altstadt davon profitiert, ist noch offen.
Braunschweig und Schwäbisch Hall sind nur Beispiele. Der Handel prägt das Gesicht aller Innenstädte. Wo es historische Bausubstanz gibt, ist die Anpassung an die Moderne eine sensible Sache. Letztlich entscheiden die Kunden, wo sie einkaufen. Und mancherorts sind Touristen äußerst wichtige Kunden.
René Schellbach, Erstveröffentlichung EuroShop.de