Wie wird ein Physiker zum IT-Spezialisten? Ganz einfach: durch die Physik. So jedenfalls ging es Dieter Neumann nach seinem Sport- und Physik-Studium. Für seine Dissertation am Göttinger Max-Planck-Institut für Strömungsforschung über die Widerstandsreduzierung umströmter Körper musste er auch programmieren. Daraus wurde ein Job beim VDI in Düsseldorf, und mit Führungsverantwortung bei zwei weiteren IT-Dienstleistern landete er schließlich an der Spitze von Acteos, einem Spezialisten für Software in der Lieferkette. Als Deutschland-Chef umwirbt er jetzt den Handel.
„IT ist viel spannender als Physik“, sagt Neumann. Aus seiner Forschung wurde später eine Folie für den Rumpf von Flugzeugen. Den Weg weg von der Wissenschaft habe er jedoch nie bereut. In seiner Freizeit fährt der 56-Jährige Mountainbike und wandert in den Bergen; zwei mal in der Woche ist er im Fitness-Studio. In drei Urlauben wanderte er mit seiner Frau von München nach Venedig, macht zusammen 560 Kilometer und 20.000 Höhenmeter. Die 20-jährige Tochter ist inzwischen aus dem Haus. „München ist die beste Stadt, in der ich bisher gelebt habe.“
Der Chef sitzt in Frankreich
Da Acteos S.A. seinen Sitz in Roubaix an der französischen Grenze zu Belgien hat, lernt Neumann auch die französische Mentalität immer mehr kennen. Alle sechs bis acht Wochen ist er als Mitglied des Verwaltungsrates dort. Das Gremium entspricht dem Vorstand einer deutschen Aktiengesellschaft. Mehrheitseigentümer ist Joseph Felfeli, der rund 60 Prozent der Anteile hält und die Firma als Verwaltungsrats-Vorsitzender selbst führt. Mit ihm als Chef habe er „ein sehr partnerschaftliches Verhältnis“, sagt Neumann.
„Mit dem Mehrheitseigentümer im eigenen Haus sind wir kaum abhängig vom Auf und Ab an der Börse“, betont Neumann. Zudem habe Acteos keine Schulden. „Die Finanzkrise spüren wir kaum.“ Das Geschäftsjahr 2010 schloss man mit 10,2 Mio. Euro Umsatz ab – plus 23 Prozent gegenüber dem Vorjahr. „Und wir wachsen auch in diesem Jahr“, berichtet Neumann stolz. Der Aktienkurs an der Börse in Paris liegt bei 2,50 Euro, sieben Prozent niedriger als vor einem Jahr.
Software – von der Zugabe zum Hauptgeschäft
Joseph Felfeli gründete Acteos 1986 und führte die Firma 2005 an die Börse. Im Jahr 2000 übernahm er die deutsche Firma Cohse, seit 1982 Wiederverkäufer von Hardware in der Logistik. Neumann wurde 2005 Geschäftsführer: „Software war damals eine nette Zugabe, mehr nicht.“ Inzwischen ist es umgekehrt. Acteos ist „Premium Solution Partner“ von Motorola und vertreibt auch Geräte anderer Hersteller, etwa Casio, Datalogic und Intermec. Aber knapp zwei Drittel des Erlöses wird mittlerweile mit Software und Service erzielt.
Acteos unterhält eine Entwicklungsabteilung in Beirut. Joseph Felfeli, im Libanon geboren und aufgewachsen, lebte über 14 Jahre in Deutschland. „Für ihn ist es ein Training, deutsch zu sprechen. Ich übe Französisch bei Meetings“, sagt Neumann. Mit rund hundert der gängigsten Fachvokabeln kann er dabei inzwischen „recht gut mithalten“. Schwieriger, sagt er, sei das weniger formelle Gespräch, etwa bei Mittagessen mit Kollegen oder Kunden, das in Frankreich auch heute noch länger dauert als in Deutschland. Aber auch diese Lücken werden durch regelmäßige Französisch-Kurse langsam geschlossen.
IT-Leute sprechen lieber Englisch
Und wie wirkt sich die französische Spitze auf die Firmenkultur von Acteos in München aus? „Wir haben sehr viele Freiheiten – wenn die Zahlen stimmen.“ Und dies sei durchaus der Fall. Damit unterscheidet sich Acteos von anderen Unternehmen, die sehr zentralistisch von Paris aus geführt werden – so wie es auch dem Regierungssystem unserer Nachbarn entspricht. Französische Sprachkenntnisse kann Neumann von IT-Leuten kaum erwarten. In der Firma spricht man über Ländergrenzen hinweg Englisch, ohne freilich das angelsächsische „Du“ in den deutschen Umgangston zu übernehmen. Eine Stechuhr und feste Präsenzzeiten gibt es „natürlich nicht“.
Die deutsche Niederlassung in Gilching bei München mit rund 30 Mitarbeitern wächst weiter. Vor allem mit Field Service – der Software für Außendienst-Techniker – ist man auf allen Kontinenten aktiv. In Deutschland waren daneben Logistik-Zentren bislang ein Schwerpunkt. Jetzt versucht Acteos, die in Frankreich eingeführten Software-Pakete zur Bestandsoptimierung im Handel auf den deutschen Markt zu bringen.
Auf der Suche nach deutschen Handelskunden
Erstmals war Acteos als Aussteller im November bei den EHI-Technologietagen in Köln dabei. Man präsentierte die Prognose-Software „Acteos PPOS“. Mittels Business Intelligence zur Auswertung zurückliegender Verkaufsdaten und selbst entwickelten Prognose-Algorithmen soll das Programm Lagerhaltung und Bestellwesen automatisieren und verbessern. Im Rahmen eines Eureka-Projektes mit Beteiligung zweier französischer Unis stecken laut Neumann rund 20 Mannjahre an Arbeit in der Entwicklung, Mitte 2010 ging das Produkt an den Start. „PPOS“ ist mittlerweile bei mehreren französischen Unternehmen mit zum Teil mehr als 150 Filialen im Einsatz; in erster Linie im Lebensmittelhandel, neuerdings aber auch bei Baumärkten, Drogerien und Modeketten.
„Den Handel drücken in Frankreich und in Deutschland die gleichen Sorgen und dafür gibt es die gleichen Pflaster“, so Neumann. Leere Regale kosten Geld, Überhang an Waren auch. Allerdings sind die Strukturen unterschiedlich: Während Frankreich riesige Hypermärkte mit 50 Kassen hat („und die sind auch alle in Betrieb“), sind in Deutschland selbst die großen Märkte viel kleiner. Andererseits ist im deutschen LEH die Ladendichte viel größer. Neumann weiß, dass die Franzosen in ländlichen Gebieten viel weiter fahren müssen, um einzukaufen.
In Deutschland seien Händler angesichts neuer Technik zunächst skeptischer als Franzosen. Referenzprojekten kommt daher eine große Bedeutung zu. Acteos kann auf laufende Installationen bei Shiver und Cora in Frankreich sowie der Schweizer Coop verweisen. In Frankreich habe man Regallücken um durchschnittlich 40 Prozent und Überstände um 30 Prozent reduziert. „Aber besser ist in Deutschland natürlich ein deutscher Kunde.“ Den will Neumann bei der nächsten EuroCIS präsentieren.
Ernsthafte Wettbewerber, die auch Mittelständler sind, sieht Neumann hierzulande nicht. SAF vom Schweizer Bodenseeufer ist im September von der großen SAP geschluckt worden. Das mittelständische Denken will er für die Gespräche mit den deutschen Kaufleuten nutzen. „Sie vertrauen momentan noch zu sehr auf das Bauchgefühl.“ Dieses Gespür könne trügen und oft sei man abhängig davon, dass der Disponent mit diesem Bauchgefühl gesund und motiviert dem Unternehmen treu bleibt.
Dieter Neumann ist überzeugt von der einfachen Einführung und Bedienung seiner Software und von ihrer hohen Prognose-Genauigkeit. Es dauere in der Regel „weniger als ein Jahr“ vom Projektstart über den Test in einigen Filialen bis hin zur flächendeckenden Einführung. Die Disponenten oder Category Manager sind natürlich anfangs skeptisch, wenn das Programm unerwartete Bestellungen empfiehlt. Wer optimal bestellt, reduziert das gebundene Kapital, unnötige Warenkäufe und hat Regalflächen frei für zusätzliche Produkte. Beim EHI in Köln veranschaulichte Acteos dies mit einem großen Kinderkaufladen. Die Botschaft: Einführung und Betrieb der Prognose-Software sei „kinderleicht“. Man darf gespannt sein auf den ersten Auftritt von Acteos bei der EuroCIS 2012.
René Schellbach, iXtenso.com