Lernfähige Unternehmensanwendungen, die mittels Künstlicher Intelligenz immer besser und schneller gewaltige Datenmengen auswerten und interpretieren können, gelten als Megatrend. In nahezu sämtlichen Branchen könnten sie schon bald die nächste Stufe der Digitalisierung einläuten. Die EuroCIS 2019 bietet eine gute Gelegenheit zur Bestandsaufnahme aktueller Einsatzmöglichkeiten im Handel.
Für Angelika Huber-Straßer gibt es keinen Zweifel: „Die nächste große technologische Revolution wird durch den Einsatz künstlicher Intelligenz bestimmt”, sagt die Leiterin des Bereichs Corporates bei KPMG Deutschland. In der aktuellen Analyse „Wertschöpfung neu gedacht“ kommt die Beratungs- und Prüfungsgesellschaft gemeinsam mit den Trendforschern von Trend One zu dem Ergebnis, dass KI und humanoide (menschenähnliche) Maschinen Wirtschaft, Arbeitswelt und Gesellschaft bereits in den kommenden 20 Jahren grundlegend verändern werden.
KI definieren die Berater dabei als Sammelbegriff für Techniken, mit deren Hilfe Computer Aufgaben erledigen, für die Menschen Intelligenz benötigen. Diese Definition beinhaltet vier zentrale Aspekte: das Erfassen von Informationen und Daten über Formen, die den menschlichen Sinneswahrnehmungen ähneln, das Verstehen und die sinnvolle Verarbeitung dieser Informationen und Daten, die auf der Interpretation basierenden Handlungen oder Handlungsempfehlungen und nicht zuletzt, die Fähigkeit aus Erfahrung und Training immer weiter dazu zu lernen.
Insbesondere der letzte Punkt – das sogenannte Machine Learning – eröffnet laut KPMG nie dagewesene Perspektiven. Auch wenn das Thema KI selbst nicht neu sei, so ermögliche das exponentielle Wachstum bei Speicher- und Rechenkapazitäten einerseits, die steigende Verfügbarkeit und verbesserte Zugriffsmöglichkeiten auf immer größere Datenmenge andererseits, erst jetzt eine rasante Weiterentwicklung der Lernfähigkeit von Computerprogrammen. Softwarebasierte Analysen und Prognosen würden durch Erfahrung und Feedback immer treffsicherer. Menschliches Eingreifen könnte in vielen Fällen entbehrlich oder sogar kontraproduktiv werden.
KI-Markt wird sich verfünffachen
Entsprechend positiv fallen die Markteinschätzungen für das Umsatzpotenzial von KI-Unternehmensanwendungen aus. Nach Einschätzung des Bitkom steht der Weltmarkt für Anwendungen in den Bereichen Künstliche Intelligenz, Cognitive Computing und Machine Learning vor dem Durchbruch. Bis zum Jahr 2020 soll das globale Marktvolumen für diesbezügliche Hardware, Software und Services auf 21,2 Mrd. Euro steigen – das wäre mehr als fünfmal so viel wie heute (rund 4,3 Mrd. Euro), lautet die Prognose des deutschen Digitalverbandes.
Durch intelligente Unternehmensanwendungen versprechen sich IT- und Businessentscheider Vorteile sowohl im Bereich Umsatzwachstum als auch bei Effizienz und Kostenersparnis. Insbesondere hoffen KI-Anwender darauf, mit intelligenter Software Wiederholungs- und Routineaufgaben zu automatisieren, neue, derzeit nicht zugängliche strategische Einsichten zu gewinnen, Wissensarbeit zu automatisieren und so teure Fachkräfte zu entlasten, die operativen Kosten durch effizientere Prozesse zu senken und neue Wege der Interaktion mit den Kunden zu erschließen. Hürden beim Einsatz von KI bestehen in vielen Unternehmen allerdings derzeit noch in unzureichender IT-Infrastruktur und fehlender Data Science-Expertise.
Retailsoftware wird intelligenter
(Auch) Die Anbieter von Standardsoftware reagieren auf den Megatrend und integrieren Künstliche Intelligenz und Machine Learning zunehmend als native Komponenten in ihre Produkte. So arbeitet SAP beispielsweise an unterschiedlichen Prognose- und Planungsmodulen, die auf KI basieren. Auf der EuroCIS können Handelsunternehmen sich unter anderem über die gemeinsam mit IBM entwickelte Lösung Cognitive Demand Forecasting (CDF) informieren. Das lernfähige Prognosetool auf Basis von SAPs Unified Demand Forecast nutzt unter anderem von IBM bereit gestellte Wetterdaten, um die Nachfrage nach bestimmten Produkten oder an bestimmten Standorten noch treffgenauer zu modellieren und zu prognostizieren. Auch beim Identifizieren von Referenzartikeln für neue Produkte oder bei der automatischen kostenoptimierten Disposition soll künftig integrierte KI für verlässliche Prognosen mit SAP sorgen.
Künstliche Intelligenz aus der Cloud
Auch ohne SAP können Handelsunternehmen KI-Lösungen auf Basis von IBMs kognitiver Software Watson nutzen. Watson Commerce bietet dazu verschiedene Module zur Optimierung der Omnichannel-Strategie als SaaS-Lösung aus der Cloud. So hilft der lernfähige KI-Assistent beispielsweise, Probleme beim Online-Shopping aufzudecken, unterbreitet Kunden intelligente Produktempfehlungen, unterstützt das effiziente Bestands- und Auftragsmanagement über alle Kanäle oder automatisiert das passgenaue Management von Wort- und Bildinhalten.
Auf flexible KI-Lösungen aus der Cloud setzt auch Blue Yonder: „Kein Handelsunternehmen, das zukunftsfähig sein will, wird langfristig auf On-Premise-Lösungen für Data Intelligence setzen“, sagt CEO Uwe Weiss. Die Software wird deshalb konsequent aus der Microsoft Cloud Azure bereitstellt. Blue Yonder wurde 2008 in Karlsruhe gegründet und zählt zu den führenden Anbietern von KI- und Machine Learning-Lösungen für Supply Chain und Merchandising. 2018 wurde der Data Science-Spezialist von JDA übernommen.
Das US-Unternehmen ist spezialisiert auf Supply-Chain-Software, zu den Kunden zählen große Handelsunternehmen wie JC Penney, Lowe`s, Macys, Sears, Target oder Walgreens. In Deutschland setzen beispielsweise Kaufland, Ernstings Family, Globus, Otto oder dm auf Tools zur automatischen Disposition oder zur Preisoptimierung von Blue Yonder. Auf Dauer werde der stationäre Handel nur durch den Einsatz von Technologien wie künstlicher Intelligenz und Machine Learning überlebensfähig sein, ist Uwe Weiss überzeugt: „Händler verfügen über eine große Menge an Daten und müssen Millionen von Entscheidungen jeden Tag treffen. Sie brauchen KI, um die Datenberge zu bewältigen“, so der CEO.
Neben Blue Yonder entwickeln auch andere Anbieter ihre Planungs- und Prognosesoftware für Pricing, Abschriften, Absatzplanung, Bestandsmanagement und Disposition kontinuierlich weiter. Auf der EuroCIS werden unter anderem Relex, Remira oder Revionics aktuelle Lösungen für den Einsatz im Handel präsentieren. In Großbritannien nutzt beispielsweise die Handelskette WHSmith seit rund einem Jahr erfolgreich selbstlernende Software von Relex für präzise Prognosen der Kundenfrequenz und des Absatzes ihrer Food-to-Go-Produkte in Flughafen-Shops. Mit intelligenter Preisoptimierungs-Software von Revionics will unter anderem der deutsche Tierbedarfshändler Fressnapf neue Erkenntnisse über die Preissensitivität seiner Kunden gewinnen. Auch bei Douglas soll die Software künftig europaweit Preise passend zur Preisstrategie des Beautyhändlers optimieren.
Wachstumsmarkt Sprach- und Bilderkennung
Interessante Einsatzmöglichkeiten für KI ergeben sich auch in Form lernfähiger Softwareassistenten, die menschliche Sprache verstehen oder Bilder erkennen können. So hat beispielsweise Prudsys (ein Unternehmen der GK Software-Gruppe) aktuell einen Visual-Search-Chatbot entwickelt: Anhand eines Produktfotos, dass der Kunden an den Online-Shop schickt, präsentiert er innerhalb von Sekunden Produktempfehlungen, die dem fotografierten Produkt ähnlich sehen. Dahinter steht die prudsys RDE, die Empfehlungen auf der Grundlage von Bild-Ähnlichkeiten berechnet.
Dietrich Wettschereck, Leiter des Bereichs Künstliche Intelligenz beim Bonner Softwarehaus Tarent Solutions, sieht Potenzial für intelligente Bilderkennungssoftware beispielsweise auch im Bereich Self-Checkout. Anhand eines Fotos vom Einkaufswagen könnte die Software an der Kassenstation überprüfen, ob Kundenbon und Wageninhalt zusammenpassen und bei Ungereimtheiten einen Mitarbeiter hinzurufen. Lernfähige Programme könnten dabei sogar anhand der sichtbaren auf verdeckte Artikel schließen, die oft zusammengekauft werden. Die Tarent-Ausgründung Snabble wird ihre Self-Scanning App auf der EuroCIS zeigen.