Die Retail-Branche braucht Digital-Experten
Unternehmen bewerben sich ebenso beim Kandidaten wie umgekehrt
Der digitale Wandel verlangt auch im (Einzel-)Handel speziell qualifiziertes Personal. Fachkräfte mit langjähriger Berufserfahrung sind begehrt und werden mit kreativen Personalmarketing-Kampagnen umworben. Oftmals gleicht die Suche aber einer Nadel im Heuhaufen.
Die Veränderungen, die die digitale Transformation mit sich bringt, sind daher auch im Personalmanagement spürbar. Egal ob IT, Business Intelligence oder E-Commerce – der Fachkräftemangel schwebt wie ein Damoklesschwert über dem Human Rescource-Management. Daher wird es immer wichtiger, den Nachwuchs oder langjährige Mitarbeiter intern aus- und fortzubilden.
War for Talent stellt Recruiter vor Herausforderungen
Personalmanager stehen nicht nur vor der Herausforderung, qualifizierte Mitarbeiter zu finden, sondern diese auch für das Unternehmen zu begeistern. Laut dem Millennial Survey 2015, herausgegeben von Deloitte, hat die Generation Y in Deutschland am wenigsten Interesse an der Handels- und Transportbranche. Der Survey 2016 zeigte außerdem, dass die Millennials nicht bereit sind, sich lange an ein Unternehmen zu binden. „Das fordert Firmen heraus: Investitionen in Recruiting und Ausbildung der Nachwuchskräfte rechnen sich bei einer hohen Fluktuation nicht. Unternehmen sollten daher hinterfragen, welche Instrumente und Maßnahmen für welche Mitarbeiter zielführend sind“, so Nicolai Andersen, Partner und Leiter Innovation bei Deloitte. Der Handel muss sich mehr denn je als attraktiver Arbeitgeber präsentieren, um die Young Talents mit den benötigten Digital-Skills zu begeistern und langfristig zu binden.
Auch Unternehmen wie die OTTO-Einzelhandelsgesellschaft verspüren diesen Trend: „Nachwuchskräfte sehen, dass die Unternehmen sehr früh anfangen, sich bei ihnen zu bewerben. Gerade in Profilen, die auf dem Markt begehrt sind, wie bei OTTO die IT-, BI- und E-Commerce-Profile, aber auch Consultants, Projektleiter und Online Marketing-Spezialisten. Häufig stellen die Talents hohe Anforderungen und haben bereits mehrere Angebote in der Tasche“, erläutert Nicole Heinrich, Leiterin Ausbildung und Personalmarketing OTTO-Einzelhandelsgesellschaft.
Der Einzelhandel von morgen braucht andere Mitarbeiter […]. Hierfür sind gerade die jungen Generationen prädestiniert, weil sie nur die digitalisierte Welt kennen, also von Grund auf Digital Retailer sind. Folglich sterben die traditionellen Handelsberufe nicht aus, allerdings wandeln sich die Anforderungen grundlegend – es ist höchste Zeit, die Ausbildung daran anzupassen. (Trendprognose aus dem Retail Report 2018)
Dem Fachkräftemangel entgegenwirken und selbst ausbilden
Auf der einen Seite drängen also junge Digital Natives auf den Arbeitsmarkt, die eine klare Vorstellung vom Berufsleben haben. Auf der anderen Seite treiben gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen die Notwendigkeit neuer Job-Profile voran. Sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite bewegt sich etwas im Retail-Recruiting.
Der Ausbildungsberuf „Kaufmann im E-Commerce“ oder E-Commerce-Studiengänge an deutschen Hochschulen sind daher erste Schritte, um auf den Wandel zu reagieren. Auch die OTTO-Einzelhandelsgesellschaft hat zusammen mit verschiedenen Unternehmen der Otto Group den Aufbau des neuen Ausbildungsberufes initiiert: „Wir gehören zu den ersten Unternehmen deutschlandweit, die die Ausbildung zum Kaufmann im E-Commerce ab August 2018 anbieten. Die Pilotgruppe der Auszubildenden bekommt die Möglichkeit, das neue Profil zu nutzen und die Inhalte weiter mitzugestalten“, so Heinrich weiter.
Auch die REWE Group plant ein solches Angebot. Nicole Ewald, Leiterin Arbeitgebermarketing & Recruiting Zentrale Handel Deutschland erklärt: „Unsere Tochtergesellschaft, die REWE digital, arbeitet derzeit daran, den Ausbildungsgang zum Kaufmann im E-Commerce in naher Zukunft anbieten zu können. Wir möchten mit unseren Ausbildungsberufen mit der Zeit gehen und der Generation Z einen attraktiven Start ins Berufsleben bieten.“
Beide Unternehmen bieten neben den klassischen Ausbildungsberufen auch duale Studiengänge oder Stipendiatenprogramme an. „OTTO hat aus diesem Grund schon vor vier Jahren den dualen Studiengang E-Commerce im Rahmen unseres Stiftungslehrstuhls an der Fachhochschule Wedel eingeführt mit dem Ziel, für eigene Nachwuchskräfte zu sorgen.“ Auch Universitäten wie die Ernst-Abbe-Hochschule in Jena erkennen den Trend und führen neue Studiengänge ein, die sich rein mit E-Commerce und Digital Retail beschäftigen.
Reverse-Mentoring: „Alte Hasen“ lernen von Digital Natives
Laut einer IFH-Studie aus dem Jahr 2016 ist die Digitalisierung die Ursache dafür, dass sich mehr als die Hälfte der bestehenden Berufe im Handel verändert. Seit 2011 sind mehr als ein Drittel neuer Jobprofile entstanden, darunter der E-Commerce Manager, der Chief Digital Officer oder der CRM-Manager. Aber reicht es hierfür, neuartige Ausbildungsberufe oder Studiengänge voranzutreiben? Immerhin dauert eine Ausbildung oder ein Studium mindestens drei Jahre. Warum also nicht in Personen investieren, die das Unternehmen bereits in- und auswendig kennen und die neue Herausforderungen schätzen?
Neben diversen Weiterbildungsangeboten, intern wie extern, bieten sich hier Reverse-Mentoring-Programme an, in denen die „alten Hasen“ von den Digital Natives lernen können. Das Unternehmen Estée Lauder hat genau das erkannt und seine Millennial-Mitarbeiter zu Beratern ernannt. Diese unterstützen nicht nur ältere Kollegen dabei, Snapchat und Shopping-Apps zu verstehen. Mittlerweile nutzen Konzerne wie die deutsche Telekom, Bosch, Time Warner, IBM und Nokia die Vorteile des umgekehrten Mentoring-Prozesses.
Wie also Talents für sich gewinnen?
Das Stellenangebot ist die eine Seite der Medaille, der Ausschreibungs- und Werbungsprozess die andere. Die relevanten Zielgruppen zu analysieren, um sie mit ihren Bedürfnissen, Ansprüchen und Werten genauer kennen zu lernen, ist die zentrale Anforderung, der Recruiter gegenüberstehen. Erst dann werden entsprechende Maßnahmen ergriffen, um die jeweiligen Zielgruppen über passgenaue Kommunikationskanäle anzusprechen.
Aus diesem Grund ist das Active Sourcing bei der REWE Group im Zentral- und Verwaltungsbereich ein Zusammenspiel aus Online-Kommunikation, Mobile Marketing und Social Media wie Facebook, LinkedIn und Xing. Ewald erklärt: „Diese Kanäle bilden eine gute Basis, um mit interessierten Nutzern in den Austausch zu kommen und über aktuelle Geschehnisse aus dem Konzern zu berichten. Sehr ernst nehmen wir auch eingehende Bewertungen über Kununu (Anm. der Red.: Arbeitgeber-Bewertungsplattform), nehmen uns dieser an und beziehen, soweit möglich Stellung.“
Auch die OTTO-Einzelhandelsgesellschaft setzt auf Multichannel-Personalmarketing. Neben den bereits bei Rewe eingesetzten Kanälen nutzt das Unternehmen zielgruppenspezifische Portale wie ausbildung.de oder meinpraktikum.de und ist darüber hinaus auch auf Twitter, Instagram und sogar Snapchat vertreten. Beide Unternehmen verfügen außerdem über ein eigenes Karriere-Portal.
Kreative Employer Branding-Maßnahmen versus Artificial Intelligence-Recruiting
Glaubt man Veröffentlichungen in relevanten Human Resource-Fachmedien, ist Recruiting heute vor allem ein Thema von Artificial Intelligence und Chatbots. Dabei wird allerdings ein eher klassischer Erfolgsfaktor oft übersehen: Die empathische Kompetenz des Personalmanagements.
Laut Heinrich beschäftige sich die OTTO-Einzelhandelsgesellschaft zwar mit diesen neuartigen Lösungen, und testete bei gezielten Einsatzmöglichkeiten auch das ein oder andere Tool wie beispielsweise Livechats und Snapchat-Sessions. Anstelle von Chatbots setze das Unternehmen aber lieber auf den persönlichen Kontakt. „Für uns ist es wichtig, Aufmerksamkeit über alle Kanäle zu erzeugen. Wir merken aber auch, dass der persönliche Kontakt sehr wichtig ist. Aus diesem Grund nutzen wir Recruiting-Veranstaltungen sehr stark als Touchpoints für unser Active Sourcing. Hierfür haben wir bereits ein Kino angemietet oder waren letztes Jahr auf der Gamescom“, zeigt Heinrich weiter auf.
Auch die Rewe Group setzt neben der Umsetzung klassischer Employer Branding-Konzepte auf die direkte Ansprache der Zielgruppe: „In der fortschreitend digitalen Welt und der Informationsflut über Social Media ist es für uns wichtig, persönlich mit potenziellen Bewerbern ins Gespräch zu kommen. Nur so können wir hautnah einen Einblick in die Tätigkeitsfelder geben, über spannende Projekte berichten und vielleicht auch das ein oder andere Vorurteil aus dem Weg räumen.“
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