Der Einsatz für mehr Event im Handel ist hoch, eröffnet aber neue Spielräume. Im Echtbetrieb muss das Socializing erst noch gelernt werden. Die Talkrunde der Retail-Experten zum Thema Playin‘ Retail – Gamification, Events, Socializing und die Gespräche beim anschließenden informellen After-Talk zeigten, was alles geht und worauf zu achten ist.
„Die Game-Industrie kennt ihre Kunden wie keine andere Branche und weiß genau, wie sich Big Data in emotionale Handlungsanreize, Content und Atmosphäre umwandeln lässt“, eröffnete Moderator Jens Fischer, CEO K.U.L.T.OBJEKT und Gastgeber, den Cross Innovation Talk (CIT) mit dem Thema Playin‘ Retail. „Auf den Einzelhandel hat sich von diesem Wissen bisher allerdings wenig übertragen, dort beschränkt sich das ‚Gaming‘ auf Loyalty-Programme und Punktesammeln.“ Aber mit der Eventisierung und dem Socializing rücken zwei Themen in den Fokus, die immer mehr stationäre Einzelhändler immer professioneller ausspielen, betonte er.
Beispiel Lettland
Was sich ihm in Lettland bot, beeindruckte selbst den erfahrenen Retail-Experten Zulfukar Tosun, Leasing-Manager im MEC METRO-ECE Centermanagement: „Ein 400 qm großer Tier-Shop mit integrierter Tierklinik und Hundefriseur. Ein Buchladen mit eingebautem Vinyl-Plattenladen und Indoor-Kinderspielplatz im hinteren Bereich, der Sonntagmorgen auch noch zum Brunch einlädt. Ein Shopping-Center, das die Trennwände zwischen den Stores entfernen ließ, um als offener Marktplatz den Kunden ein ganz neues Feeling zu vermitteln. – Hierzulande wäre vieles davon schon aufgrund baurechtlicher Bestimmungen unmöglich, aber das zeigt einfach, wo sich der Einzelhandel hinbewegen kann.“
Macher mit viel Profil
Einer, der viel Bewegung im Einzelhandel lebt, ist Thomas Wartner. Gemeinsam mit seiner Frau betreibt er unter dem Claim Stulz – Mode, Genuss, Leben zwei Fashion-Stores. In den letzten Jahren hat er sie zu einem hybriden Kosmos aus handverlesener Mode, Feinkost, Reisetipps und höchst eigenem USP ausgebaut. Sein Geschäftsmodell beschreibt er so: „Ein Schwenk in die Hotellerie macht es deutlich. Wir nennen den Kunden ‚Gast‘. Unsere Läden sind dem Gast ein zweites Wohnzimmer. Er kommt gern mal vorbei, um zu sehen, was los ist oder was es Neues gibt. Wir sind das Team, das Spaß am Genuss hat und den an die Gäste weitervermittelt. Und, Stichwort Content: Mit einem offenen Netzwerk stehen wir in ständigem Austausch und können daher Hoteltipps geben, ein Magazin herausbringen und zu unserem jährlichen stulz & friends socializing-Event, u.a. 2017 mit einem sofa-concert einladen, für das die limitierte Gästeanzahl auch gerne Eintritt bezahlt.“ Wartners Überzeugung: Die Zeiten der Bedarfsdeckung sind im stationären Einzelhandel vorbei. Grund für die Kunden, in die Stadt zu gehen, ist einzig, um dort gut unterhalten zu werden.
Es diskutierten:
Claudia Rauhofer, strictly HERRMANN – The Concept Store
Robert Böhme, Stadtmarketing Pirna
Dr. Dirk Fittkau, Centrum Galerie Dresden, Klépierre
Zulfukar Tosun, MEC METRO-ECE Centermanagement Thomas Wartner, Stulz-MODE : GENUSS : LEBEN
Jens Fischer, K.U.L.T.OBJEKT
Tante Emma modern
Immer gut unterhalten wird man auch in Wien bei Strictly Herrmann. Das moderne Retail-Konzept von Claudia Rauhofer basiert auf einem hochwertigen Produktsortiment für Männer, einer angeschlossenen Art Gallery und der Event-Location, die auch vermietet wird. Die drei Geschäftsbereiche überlappen und befruchten sich gegenseitig, so ist immer etwas los. „Unser ältester Stammkunde, ein 84-jähriger Herr, kommt regelmäßig auf dem Rückweg von seinen Arztbesuchen vorbei, weil er sich bei uns wohlfühlt, einen Kaffee bekommt und sich die jeweilige Ausstellung im UG ansehen kann“, erzählt Rauhofer. Auf diese Weise lernt der Herr eine Produktwelt kennen, die zunächst beileibe nicht auf ihn als Kernzielgruppe zugeschnitten ist, und kauft auch mal etwas.
Der Retailer wird zur Kontaktbörse. „Die Menschen entdecken, dass Online einsam macht und echte Freunde aus Fleisch und Blut sind“, kommentiert Fischer. Und Wartner ergänzt: „Je mehr wir Social-Media-getrieben leben, umso höher steht der echte Mensch und der Wert der Wertschätzung im Kurs.“ Einmal jährlich gibt er im Rahmen seines Konzepts ein Magazin namens Herzblut-Edition heraus. Darin werden u.a. seine individuellen Lieferanten vorgestellt. „Das sind ja einige echte Freaks, die ihr Herzblut in die Produkte fließen lassen“, so Wartner. – Die Leute, Kunden und Gäste lieben es.
Um sowas wuppen zu können: Brauchen Einzelhändler heute einen Event-Manager? Rauhofer: „Als Concept-Store bin ich der moderne Tante-Emma-Laden“. Es muss einem Unternehmer schon liegen, Kontaktbörse offline und online in den Social-Media-Kanälen umtriebig zu sein. Dann aber hat der unabhängige Einzelhändler Spielraum und strategische Vorteile.
Starke Zugpferde gesucht
Den Freizeitwert ganzer Einkaufsstraßen, Innenstädte und Shopping-Center zu erhöhen, kann sich ungleich schwieriger gestalten, da hier viele Player mit unterschiedlichen Interessenlagen mitmischen. Dennoch ist es gerade jetzt wichtiger denn je, diesen Einkaufslagen, die in den letzten Monaten vielerorts stark ausgedünnt wurden, wieder Argumente an die Hand zu geben. Dabei werden Events und Socializing Schlüsselrollen einnehmen, die über Wohl und Wehe ganzer Einkaufsstandorte entscheiden könnten.
Sich zusammenzutun und die Stärke der Gemeinschaft auszuspielen, ist Gebot der Stunde, gleichwohl nicht ganz einfach. Da muss der Einzelhändler, traditionell vom Typ her vielleicht auch eher einer, der lieber „einzeln handelt“, erst erkennen und akzeptieren, Teil eines Ganzen zu sein. „Besonders aktive Einzelhändler sind in City-Gemeinschaften Gold wert“, betont Robert Böhme vom Stadtmarketing in Pirna, einer sächsischen Kleinstadt mit knapp 40.000 Einwohnern und einer ausgeprägt schöner Einzelhandelsstruktur. „Denn den Zugpferden gelingt es oft, die passiveren Händler anzustecken, so dass sie bei großen Events wie Einkaufsnächten und Osterzauber mitziehen.“ Eine wichtige Rolle des Stadtmarketings sieht Böhme in der Vernetzung der Interessenlagen. Dennoch: Es gibt eben immer auch jene, die „zumachen“. Besonders nervt es, wenn sich Händler an gemeinsamen Aktionen nicht beteiligen, aber als „Trittbrettfahrer“ davon profitieren wollen. „Wir müssen da bisweilen als Mediatoren tätig werden“, meint Böhme. Trittbrettfahrer kennt auch Dr. Dirk Fittkau, Senior Centermanager des Shopping-Centers Centrum Galerie in der Dresdner Innenstadt, die inzwischen zum Portfolio des Immobilien-Entwicklers Klépierre gehört. Vor allem dann, wenn es ums Finanzielle geht. Damit lenkt er die Diskussion auf eine sehr zentrale Frage: „Wenn ein Late-Night-Shopping in der Stadt geplant ist, tragen wir als Center das natürlich mit. Trittbrettfahrer sind dann schon ärgerlich, sie gehen zulasten jedes einzelnen unserer Mieter. – Die Kosten großer gemeinschaftlicher Events gerecht zu verteilen ist einfach eine ganz schwierige Kiste.“
Learnings: Einklang von Freizeitwert, Produkt und Zielgruppe
Am Scheideweg zwischen Stagnation und mehr Bewegung und Aktion im Handel muss auch der heterogenen Mieterschaft in einem Shopping-Center Rechnung getragen werden. Fittkau appelliert an Rücksichtnahme: „Wir können nicht permanent Bambule machen, und im Store nebenan versteht die Kassiererin ihr eigenes Wort nicht mehr.“ Seine Schlussfolgerung: „Ein Center lebt von Events. Das müssen aber nicht immer die Mega-Kracher sein, es sollten kleine Dinge sein, die den Kunden sagen lassen: Das war aber nett!“ Und Fischer sekundiert: „Wir definieren in unsererPlanungsphilosophie für den Einzelhandel der Zukunft auch nicht den Mega-Event als entscheidenden Wettbewerbsfaktor, sondern viel mehr den erhöhten Freizeitwert.“
Heterogen sind auch die Zielgruppen und damit die Shopping-Motivationen, machte Zulfukar Tosun mit einem Beispiel deutlich: „An einem Standort mit starkem Wettbewerb in unmittelbarer Nachbarschaft haben wir den Abgang vieler Textilmieter verzeichnet, so dass wir uns fragen mussten: Wenn der Kunde nicht mehr Fashion einkauft – was macht er dann? Wir haben die realistischen Bedürfnisse unserer Kunden im Center genau unter die Lupe genommen, auch die der älteren. Auf dieser Basis konnten wir Optiker, Hörgeräte-Akustiker und ein Sanitätshaus als Mieter ins Center holen – mit dem Resultat, Frequenz und Verweildauer im Center wieder eklatant zu steigern.“
Den öffentlichen Teil des Talks können Sie hier noch einmal ansehen: https://youtu.be/hB501ePcghc