Reiseveranstalter und Tourismusverbände müssen sich darauf einstellen, dass sich das Reiseverhalten und die Motivationen fürs Reisen radikal verändern. Neuen digitalen Technologien wie Virtual Reality kommt besonders fürs Marketing in Reisevertrieb und Reisebüro große Beachtung zu. Das betonten Reise- und Technologie-Experten, die sich im Cross Innovation Talk (CIT) zur Zukunft der Reisebranche austauschten.
„Nicht der Eiffelturm selbst ist es, der meine Follower an meiner Paris-Reise interessiert, sondern der Weg dorthin, was mir dabei passiert ist und meine ganz individuellen Eindrücke und Empfindungen“, erläuterte die Bloggerin Luise Morgen, aus welchen Gründen ihre Reiseschilderungen in ihrem Blog Kleinstadtcarrie.net so großen Anklang finden.
„Wir beobachten, dass ein Reiseziel immer weniger geografischer Natur ist, sondern darin besteht, mehr über die eigene Persönlichkeit zu erfahren und sich selbst in Bezug auf die Umwelt, den jeweiligen Ort wahrzunehmen“, pflichtete Dr. Silke Seemann ihr bei. Dass der Wandel in der Wahrnehmung von der klassischen, objektiven Sehenswürdigkeit hin zum persönlichen Erleben geht, ist auf die gesellschaftliche Entwicklung zurückzuführen, so Seemann, Consulter beim Zukunftsinstitut, einem der einflussreichsten Think Tanks der europäischen Trend- und Zukunftsforschung: „Jüngere Generationen sind es gewohnt, zu
reisen, absolvieren im Studium Auslandssemester etc. Daher muss man nicht mehr um jeden Preis nach Bali, sondern benutzt eine Reise dazu, sich mit sich selbst zu beschäftigen.“
Digitalen Technologien kommen in der Reisebranche viele verschiedene zentrale Aufgaben zu, besonders angesichts des gesellschaftlichen und den globalen Wandels. Dr. Nico Stengel, Professor an der Fachhochschule Dresden und dort Studiengangleiter Tourismus & Event-Management, meint: „Im Reisevertrieb und bei den -produkten hat die Digitalisierung die Prozesse unter technisch-unternehmerischen Aspekten bereits vereinfacht.“
Jürgen Wolf, Geschäftsführer vom City Management Dresden, sieht in der digitalen Kommunikation Chancen: „Die neue Form, in Communities oder Blogs über Reiseziele zu reden und sich darüber auszutauschen, was man dabei empfindet, sehe ich grundsätzlich positiv. Städte wie Dresden können sie für ihre Stadtvermarktung nutzen.“
Virtual Reality und andere digitale Technologien sind der Reisebranche nicht als neue Form des Reisens, sondern als zusätzliche Marketinginstrumente anzusehen. „Mit 360°-Videos und VR-Brille kann man das Reisen nicht ersetzen“, präzisiert Martin Maurer, VR-Spezialist und bei der NBT AG (für Next Big Thing) in Berlin tätig. Er meint, echtes und virtuelles Reisen spiele sich in zwei unterschiedlichen Erlebnisbereichen ab und löse unterschiedliche Emotionen aus. Insofern seien sie gar nicht miteinander vergleichbar. „Aber ich kann zum Beispiel Menschen damit erreichen, die nicht reisen können. Mit VR-Brille kann man irgendwo ins Meer springen, obwohl man im Wohnzimmer auf der Couch sitzt. Man kann auch die soziale Interaktion damit betonen. Hier ist vieles noch mit einem Lernprozess verbunden.“
„So kann es unterschiedliche Zielgruppen ansprechen, etwa denjenigen, der sich in der Mittagspause schnell mal ausklinkt oder Zielgruppen, die sich echte Reise nicht leisten können oder einfach keine Zeit dafür haben. Auch Menschen mit physischen Einschränkungen oder gesundheitlichen Problemen oder auch alte Menschen, die in Seniorenheimen sitzen, kommen in Betracht“, ergänzt Tino Barth, Business Development bei K.U.L.T.OBJEKT Marken- und Erlebnisarchitektur.
Dr. Nico Stengel: „Das echte Reisen ist etwas zutiefst Emotionales, wo ich hinausgehe in einen ungewissen Raum und mich bewusst einem gewissen Stress aussetze. Dennoch erkenne ich in virtuellen Möglichkeiten unglaubliche Bereicherungen für die Reisebranche, die mehr Attraktionen und ganz neue Interessen hervorbringen werden. Es wird zur Selbstverständlichkeit, dass wir Reisen virtuell unterstützt verkaufen werden. Der Kunde will wissen, was auf ihn zukommt.“
Jürgen Wolf räsoniert: „In zwei, drei Jahren kann das Bewerben eines Reiseziels mit VR zum Wettbewerbskriterium geworden sein, wie es früher mal der USB-Stick oder die CD war. Das kann dann eher zu noch mehr Reisetätigkeit führen.“ Da sich die Menschen vieler asiatischer und arabischer Länder gerade erst auf den Weg machen, die Welt zu erkunden, während viele typische Urlaubsdestinationen längst schon dramatisch überlaufen sind, sollte Nachhaltigkeit und Wertschöpfung als Zielsetzung angepeilt werden, so Wolf: „Wenn solche Instrumente dazu führen, dass auskömmlichere Reisemodelle entwickelt werden und Wertschöpfung durch Qualitätstourismus generiert wird, der nicht so schlimm mit der Umwelt umgeht, dann könnte das eine sehr interessante Entwicklung sein.“
Differenziert sieht auch Frank Schulz, Gründer und Inhaber von Schulz Aktiv Reisen und damit Mann aus der Praxis, den Einsatz von VR-Innovation: „Vor einigen Jahren sollte plötzlich zu einer Reise unbedingt ein Video mitangeboten werden. Doch es zeigte sich schnell, dass diese Videos wenig angesehen werden. Währenddessen verzeichnet der gute alte Dia-Vortrag steigende Besucherzahlen“, betont Frank Schulz und schließt daraus, dass weniger die statischen Ziele und Sehenswürdigkeiten den Ausschlag für eine gelungene Reise geben als vielmehr das reale Erleben. „Das ‚Menscheln‘ ist, was die Leute wieder
wollen. Um das zu bieten, müssen wir permanent an unseren Reisen arbeiten.“
„Anfang der Neunziger waren künstliche Erlebniswelten ein großes Thema, das sich inzwischen allerdings erledigt hat. Ich habe das damals ‚Reisen Light‘ genannt. Letztlich kommt dieses Reisen Light nun mit der VR-Brille wieder“, meint Matthias Gilbrich, Leiter Marktforschung und Unternehmensentwicklung bei der Tourismus Marketing Gesellschaft Sachsen mbH. „Ich glaube nicht, dass das digitale Reisen das reale ersetzt. Denn wir wollen uns an die Gefühle erinnern, und die kann uns nur das reale Erlebnis vermitteln.“
Die Option, virtuell auf Reisen zu gehen, im Reisemarkt nicht nur als zusätzliches Marketinginstrument anzusehen, sondern als eigenständiges Medium aktiv in unseren Lifestyles einzubinden, war die Idee von Jens Fischer, CEO K.U.L.T.OBJEKT Marken- und Erlebnisarchitektur und Veranstalter der Talkrunde: „Einen Ort zu schaffen, wo man sich begegnet, gemeinsam auf Reisen geht, zum Beispiel, um sich in eine bestimmte Stimmung zu versetzen, könnte Teil unserer Freizeitkultur werden und der Belebung unserer Innenstädte dienen.“ Er nennt ein Beispiel: „Da die Menschen heute dauergestresst sind, haben wir ein Raumkonzept für die Innenstadt entwickelt, in dem die Besucher absolute Ruhe verspüren können, nichts hören und nichts sehen, keine Bewegung, keine Hektik.“ Übertragen auf die Reisebüros entwirft er die Szenerie: „In Anbetracht der Tatsache, dass sich die Innenstädte wandeln und nach Konzepten suchen, die Leben und Frequenz bringen, könnten sich Reisebüros im herkömmlichen Sinne zu Reise-Centern mit Mehrwert entwickeln, in denen man Reisen auf jedem Level erleben kann und die man gerne aufsucht: Um eine Reise in die Stille zu genießen, um sich zu treffen und gemeinsam eine virtuelle Reise zu unternehmen, und natürlich auch, um echte Reisen zu buchen.“
Das kommentierte Jürgen Wolf: „Wenn wir das nicht machen, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Amazon, Google und Konsorten das anbieten…“Den kompletten Cross Innovation Talk mit dem Titel Holiday Now – Wie wollen wir in Zukunft reisen? können Sie hier verfolgen:
Hintergrund-Infos über den CIT finden Sie auf der Website www.cit.retail4-0.world