Die Kommode passt nicht neben das Bett! Die Farbe entspricht nicht dem Produktfoto! Die Handtasche ist viel zu klein! Es gibt zahllose Gründe, online erworbene Artikel zurückgehen zu lassen. Aber was wäre, wenn man diese Fehler schon im Vorfeld ausschließen könnte? Durch die Einbettung von Augmented Reality ist das möglich, meint Dr. Ulrich Clemens, CMO von Scanblue. Wir sprachen mit ihm über Nutzen, technische Möglichkeiten und die Zukunft von AR im Handel.
Herr Clemens, wie hat sich der öffentliche Umgang mit AR in den letzten Jahren verändert?
Die erste Begegnung der breiten Öffentlichkeit mit AR fand im Sommer 2016 statt, als das Spiel „Pokémon Go“ auf den Markt gekommen ist. Davor gab es zwar immer mal wieder kurze Hypes um AR, dann ist das Thema aber immer wieder in der Versenkung verschwunden. Überall waren Spieler oder kleine Gruppen unterwegs, die mit ihren Smartphones auf die Suche nach virtuellen Fantasiewesen gingen – und das in der realen Welt. Zum ersten Mal wurde klar, dass AR früher oder später auch von der breiten Masse verwendet werden würde.
Welche AR-Funktionen sind mit heutigen mobilen Endgeräten möglich?
Moderne Mobiltelefone und Tablets bieten sich aufgrund ihrer hohem Rechenleistung und der ohnehin vorhandenen Sensorik geradezu als AR-Gadgets an. Sowohl Google als auch Apple statten ihr mobilen Betriebssysteme iOS und Android heute mit Fähigkeiten für AR aus, so dass Nutzer AR-Objekte ganz einfach in ihrer Umgebung positionieren und anschauen können – und das ganz ohne App.
In Ausnahmen kann es jedoch auch weiterhin sinnvoll sein, eine spezielle App zu verwenden. Ein Beispiel: Ein Hersteller von Markisen hat eine Vielzahl von Größen, Ausführungen und Materialien im Angebot. Er möchte dem Kunden eine Art Konfigurator zur Verfügung stellen, damit dieser das fertige Produkt außen an seiner Hauswand betrachten kann. Für so einen Fall ist auch weiterhin eine App notwendig und sinnvoll.
Warum sollten Onlinehändler auf AR setzen?
Die alte Maxime „die Großen fressen die Kleinen“ gilt im Onlinehandel nicht mehr. Hier heißt es: „Die Schnellen fressen die Langsamen“. Wer zu lange wartet, verliert. Alle Technologien stehen zur Verfügung und es gibt für Onlinehändler keinen Grund abzuwarten. Daran, dass AR das Onlineshopping verändern wird, zweifelt jedenfalls kein Kenner der Branche.
Es ist kein Geheimnis, dass die Kaufbereitschaft bei Online-Käufern steigt, je größer die Möglichkeit ist, sich mit einem Produkt zu befassen. Bislang ging das nur über Produktfotos. Mit AR kommt jetzt die Chance hinzu, Produkte in einer ganz neuen Qualität zu begutachten: zuhause, dreidimensional, in Originalgröße und mit jedem Detail. Das Erlebnis im Online-Shop nähert sich so mehr und mehr dem Shopping-Erlebnis im stationären Einzelhandel an. Da der Kunde so in vielen Fällen frühzeitiger, das heißt bereits vor der Bestellung, merkt, ob ihm eine Ware passt und gefällt, reduziert sich außerdem die Retouren-Quote. Das sorgt für geringeren Aufwand und somit weniger Kosten beim Händler.
Für welche Bereiche ist der Einsatz von AR besonders spannend?
Wir haben mittlerweile Kunden aus nahezu allen Branchen: Lebensmittel, Mode, Schmuck zum Beispiel. In einigen Bereichen hat sich die Technologie schon länger etabliert: Das gilt beispielsweise für Möbel und alles andere rund um Haus und Garten. Hier bietet AR dem Kunden einen besonders großen Mehrwert, da er die Ware direkt in seiner eigenen Umgebung betrachten und in diese einpassen kann.
Wie kann ein Händler AR in seinen Shop einbinden?
Wenn ein Händler Produkte in seinen Shop einbinden will, muss er sie vorab digitalisieren beziehungsweise digitalisieren lassen. Wir von Scanblue beispielsweise bieten dazu zwei verschiedene Möglichkeiten an. Der Kunde kann die Produkte entweder an uns schicken und sie von uns einscannen lassen oder aber er erhält von uns ein 3D-Scansystem, mit dem er die Produkte eigenständig digitalisieren kann.
Welche Entwicklungen dürfen wir im Bereich AR in den nächsten Jahren erwarten?
Ein nächster Schritt wird wahrscheinlich sein, dass ganz normale Brillen die Fähigkeit erhalten, AR-Objekte in unsere Umgebung zu projizieren. Intel hat vor einiger Zeit einen Prototyp vorgestellt, der genau das kann. Mithilfe eines kleinen, am Brillengestell befestigten Projektors wurde dabei das AR-Bild auf die Netzhaut des Auges projizierte. Auch Kontaktlinsen, die für ein AR-Bild sorgen, wären denkbar.