Sie war die erste ihrer Art, heute grenzt sie an die Toplage der Stadt – die Treppenstraße in Kassel ist Deutschlands älteste Fußgängerzone. Am 9. November wird sie 65 Jahre alt.
Die Fußgängerzone im Wandel
Eingeweiht wurde die erste offizielle Fußgängerzone 1953. Erst 14 Jahre später, im Jahr 1967, folgte in Oldenburg ein Areal, das mehrere Straßen umfasste, die für den Autoverkehr nicht zugelassen war. Die Fußgängerzonen entwickelten sich von reinen Einkaufsmöglichkeiten zu einem Aufenthaltsort für die Bürger und Besucher. Vor 65 Jahren waren es überwiegend lokale und regionale Unternehmen, die in den Städten ihre Waren und Dienstleistungen angeboten haben. Heute sind nur noch vereinzelt inhabergeführte Geschäfte in Mittel- und Großstädten zu finden – dafür umso mehr nationale und internationale Filialisten.
Diese Entwicklung ist keineswegs eine neue: Bereits in den 1980er Jahren begann die „Deichmannisierung“, wie die zunehmende Filialisierung in der Branche genannt wird. Mit steigender nationaler und internationaler Expansion haben sich auch die Anforderungen an Größe und Ausstattung der Ladenlokale gewandelt: In Kassel besteht laut Andreas Grüß, Geschäftsführer von LÜHRMANN Osnabrück, die größte Nachfrage nach Ladenlokalen zwischen etwa 100 bis 350 Quadratmeter. „Für die Mieter wird es zunehmend unumgänglicher, dass die Flächen ohne Treppen zu erreichen sind, idealerweise keine Säulen die Fläche verstellen und Deckenhöhen von 3,50 bis vier Meter vorhanden sind. Am beliebtesten sind Ladenlokale, die ein gutes Verhältnis von Front und Fläche aufweisen, der klassische Schuhkarton“, so Grüß.
Assetklasse Einzelhandelsimmobilien
Nicht nur der Handel in den Städten hat über die vergangenen Jahrzehnte zugenommen, auch der Handel mit den Immobilien hat sich verstärkt: Einzelhandelsimmobilien sind in den vergangenen drei Jahrzehnten zu einer eigenen Anlagemöglichkeit geworden. Aktuell steht eine große Nachfrage einem geringen Angebot gegenüber, begründet sei dies unter anderem mit der Niedrigzinsphase, sagt Thomas Weking, Geschäftsführer bei LÜHRMANN Osnabrück und Ansprechpartner für Investments.
„Die Kaufpreisfaktoren haben sich in Kassel in den vergangenen Jahren ganz typisch entwickelt“, fasst er zusammen. Die Nachfrage gehe vor allem von nationalen institutionellen Anlegern aus. Besonders sei die 1A-Lage zwischen dem C&A sowie dem Königsplatz gefragt.
Treppenstraße in Kassel erlebt Lageverschiebung
Andreas Grüß, Geschäftsführer von LÜHRMANN Osnabrück, kennt sich in der Einzelhandelslandschaft von Kassel aus, so schätzt er die gegenwärtige Lage der Straße ein: „Die Treppenstraße war einst der Anlaufpunkt vieler regionaler Einzelhändler, heute ist die Nachfrage nach Ladenlokalen hier eher mäßig.“ Die Obere Königsstraße, in dem Bereich zwischen Müller Drogerie und Galeria Kaufhof, sei heute die Toplage, die sogenannte 1A-Lage der Stadt. Diese Lageverschiebung sei unter anderem mit der charakteristischen Treppe als eine Art Hindernis und den nicht marktgerechten Ladenlokalen zu begründen.
Der Einzelhandelsstandort Kassel hat in den vergangenen Jahren an Attraktivität für nationale und internationale Filialisten gewonnen. Jahr für Jahr nimmt die Relevanz des Oberzentrums zu: Die Umsatzkennziffer liegt bei 138,69 pro Einwohner, das entspricht einem durchschnittlichen Einzelhandelsumsatz von 8.424 Euro. Die zentrale Lage der Stadt spiegelt sich in der Zentralitätskennziffer, die Kaufkraft und Umsatz in Relation zueinander setzt, wider. Sie entspricht aktuell 144, das ist ein überdurchschnittlich hoher Wert.
„Wir gehen davon aus, dass sich die 1A-Lage in Kassel auch weiterhin stabil, auf gutem Niveau weiterentwickelt“, sagt Grüß. Wichtige Indikatoren dafür wären, dass es im nahen Umfeld keinen relevanter Mitbewerber gäbe und die guten Passantenfrequenzen in der Stadt die relativ schwache Kaufkraft von 96,32 kompensieren würden.
Zukunftsfähigkeit statt Rente
65 Jahre nach ihrer Entstehung scheint die Fußgängerzone mancherorts in Rente geschickt zu werden: viele Leerstände, sinkende Mieten und wenig Frequenz sind auf der einen Seite zu buchen. Betreibt man Ursachenforschung werden schnell Stimmen laut, die dem E-Commerce die Schuld geben, oder auch der demografischen Entwicklung. Auf der anderen Seiten gibt es Innenstädte und Fußgängerzonen die geradezu aufblühen: „Städte mit einem charmanten und individuellen Profil bieten eine hohe Aufenthaltsqualität und haben gute Zukunftsperspektiven“, weiß Grüß zu berichten. So nennt er als Beispiel das touristisch geprägte Flensburg. Im Schnitt sind dort die Spitzenmieten seit 2016 um acht Prozent gestiegen.
Ein Pendant im Süden der Republik: Auch Konstanz entwickelt sich sehr positiv für den Einzelhandel. Die Mieten wären dort um durchschnittlich zehn Prozent angehoben worden. Der achtprozentige Anstieg gilt auch für das bei Touristen ebenfalls sehr beliebte Heidelberg. Münster mischt auch mit und verzeichnete höhere Spitzenmieten. Ein Zufall, dass touristische Städte profieren? Wohl kaum: „Städte müssen an sich arbeiten, um sichtbar und unverwechselbar zu bleiben“, sagt Grüß. Das beträfe sowohl den Lebens- und Freizeitwert als auch die Attraktivität für Einzelhändler – und somit auch für die Kunden.