Interview • 04.06.2018

Beste Freunde: Digitalisierung und Prozessmanagement

Wie Handelsunternehmen ihre Abläufe optimieren können

Sie sind unzertrennlich: die Prozessoptimierung und die Digitalisierung. Die Vorgänge im gesamten Unternehmen zu vereinfachen und möglichst umfangreich zu automatisieren, ist ihr gemeinsames Ziel.

Wie Handelsunternehmen das möglichst reibungslos umsetzen können, erklärt Professor Jörg Becker, geschäftsführender Direktor des European Research Center for Information Systems ERCIS der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, im Interview mit iXtenso.

Herr Professor Becker, womit starten Unternehmen optimalerweise ihre Prozessoptimierung?

Sie müssen sich alle Prozesse in einem Unternehmen anschauen, von Anfang bis Ende. Dort müssen sie herausfinden, an welchen Stellen es sinnvoll ist, zu digitalisieren. Bevor sie das tun, ist unerlässlich, die derzeitigen Prozesse sauber zu dokumentieren. Dazu gibt es eine Reihe von Prozessmanagement-Methoden und -Tools.

Allein die Ist-Analyse ist schon hilfreich – nicht nur, um Prozesse zu dokumentieren, sondern auch, um Mitarbeiter an das Denken in Prozessen heranzuführen, um Stellenbeschreibungen aus den Prozessen abzuleiten. Sie kann auch die Basis für die Qualitätszertifizierung nach DIN/ISO 9001, die die Prozesse ganz dominant herausstellt, schaffen.

Was folgt als Nächstes?

Die Unternehmen möchten zu guten Soll-Prozessen kommen. Hierzu brauchen sie drei Schritte: weglassen, vereinfachen, automatisieren, und zwar in dieser Reihenfolge. Wer Unsinn automatisiert, schafft automatisierten Unsinn, aber es bleibt Unsinn. Sind bestimmte Prozessschritte wirklich notwendig, um die betriebswirtschaftliche Aufgabe, um die es gerade geht, komplett zu erfüllen? Häufig gibt es noch Prozessschritte, die im Rahmen einer manuellen Abwicklung notwendig waren, die aber im Rahmen einer digitalisierten Abwicklung komplett überflüssig sind. 

Dann muss vereinfacht werden, sodass beispielsweise ein Prozess nicht im Pingpong-Verfahren von Abteilung A nach B und wieder zurückwandert, sondern möglichst abschließend in einer Abteilung bearbeitet wird. Wenn das geschafft ist, können die übrig gebliebenen Schritte mit digitalen Medien automatisiert werden. So komme ich zu guten Soll-Prozessen. 

Wer kann Einzelhändlern bei einem solchen „Frühjahrsputz“ helfen?

Für jedes Handelsunternehmen ist die Prozessoptimierung und -automatisierung, insbesondere, wenn sie mit der Einführung einer neuen Software einhergeht, ein einmaliger Vorgang, da ist es durchaus von Vorteil, Hilfe von spezialisierten Beratungsfirmen zu nutzen; und sei es nur, dass diese die richtigen Fragen stellen und dafür sorgen, dass nichts vergessen wird. 

Gute Vorbereitung ist alles weiß Jörg Becker, vom European Research Center...
"Gute Vorbereitung ist alles" weiß Jörg Becker, vom European Research Center for Information Systems ERCIS
Quelle: ERCIS

Sie haben ein Referenzmodell entwickelt, das Sie bei der Beratung nutzen. Warum?

Die meisten Unternehmen tun sich schwer damit, Prozesse ganz von vorn zu beschreiben. Mit einem Beispiel vor Augen ist das viel einfacher. Unser Referenzmodell beschreibt die Vorgänge eines Handelsunternehmens in drei Ebenen. Auf der obersten Ebene, die wir Ordnungsrahmen nennen, zeigen wir die Kernfunktionen eines Handelsunternehmens, das sind Beschaffen, Lagern, Verkaufen. Diese werden unterstützt durch die betriebswirtschaftlich-administrativen Prozesse Haupt- und Anlagenbuchhaltung, Kostenrechnung sowie Personal und werden gesteuert durch die Management- und Koordinationsprozesse. Jedes Element des Ordnungsrahmens wird in einem Hauptprozess, der zweiten Ebene, beschrieben, und jedes Element des Hauptprozesses in einem Detailprozess, der dritten Ebene.

Mit diesem Modell im Hinterkopf können wir die Interviews mit den Handelsunternehmen Schritt für Schritt durchführen und somit schneller zur Prozessdokumentation gelangen. Dadurch ist der Vorgang deutlich kostengünstiger. 

Ein Beispiel?

Alle Prozesse sollen im Prozessmodell vernünftig strukturiert festgehalten werden, wie die zentrale oder dezentrale Disposition im Einkauf; nur Rechnungskonditionen oder auch nachträgliche Vergütungen; Versand mit eigenen LKWs oder durch ein Logistikunternehmen; nach dem Auftrag erst Lieferung und dann Bezahlung oder umgekehrt. In beschreibenden Attributen wird dann dokumentiert, wer welchen Prozessschritt durchführt, wie hoch die Fallzahl ist für Aufgaben wie Bestellungen, Rechnungen, Warenumlagerungen oder wo Schwachstellen offensichtlich sind.

Man sollte im Rahmen der Ist-Analyse auch immer die Mitarbeiter fragen, wo sie nötige Prozessverbesserungen sehen. Da kommt immer viel Gescheites. Wenn wir das im System hinterlegen, haben wir für den Soll-Prozess direkt Ansatzpunkte, was verbessert werden kann. 

Im Bereich Handel gibt es noch einiges zu tun – gerade hinsichtlich der Digitalisierung …

Solange wir physische Produkte haben – und die haben wir im Einzelhandel – können wir nicht alles digitalisieren. Wir können aber schon relativ weit gehen.

Ein Beispiel ist der Bereich Logistik. Es ist wenig sinnvoll, wenn der Lieferant eine Produktendprüfung macht und der Händler eine Produkteingangsprüfung. Es müsste eigentlich reichen, wenn der Lieferant das Prüfprotokoll, das im System vermerkt ist, mit übergibt und der Händler dann einen Nachweis hat, dass das Produkt fehlerfrei ist.

Ein anderes Beispiel ist die gesamte Zollabwicklung – die ist heute ein wahrer Albtraum. Es liegen zu jeder Zeit alle Daten vor, sie müssen nur von den unterschiedlichen Bereichen auch entsprechend genutzt werden. Man könnte die Zollabwicklung dramatisch vereinfachen, wenn man die Zolldaten vollständig digitalisiert und alle auf sie zugreifen können. 

Reicht eine Softwarelösung für gute Prozesse?

Ich bin ein großer Fan von integrierten Lösungen. Es ist einfacher, eine bestimmte Funktion, die in einer Software fehlt, zu ergänzen, als unterschiedliche Lösungen auf unterschiedlichen Ebenen wieder miteinander zu verbinden. Das ist Aufwand, der immer wieder unterschätzt wird. Und Omnichannel ist ohne integrierte Systeme nicht vorstellbar.

So eine Prozessoptimierung scheint trotz aller Tipps eine ganz schöne Herausforderung zu sein.

Natürlich ist eine Prozessoptimierung erst einmal eine Kraftanstrengung für ein Unternehmen. Aber das gilt für alle Projekte. Es gibt zunächst einen Berg an Mehrarbeit, damit man nachher effizienter arbeiten kann. Oder will man mit einem stumpfen Beil Bäume fällen, weil man vermeintlich keine Zeit hat, das Beil zu schärfen? 

Schaffen nur die großen Unternehmen eine gute Digitalisierung?

Nein. Auch kleine Unternehmen sind da richtig gut. Wie beispielsweise das neue Konzept „Flaschenpost“ aus Münster. Das Unternehmen liefert Getränke innerhalb von zwei Stunden nach der Bestellung über die App. Flaschenpost hat verstanden, wie man mit ausgeklügelten digitalen Verfahren Tourenplanung macht, wie man zur richtigen Zeit die richtige Anzahl Fahrer disponiert und genügend Transporter zur Verfügung hat. 

Dieses Beispiel wie auch die häufig angestrebte Omnichannel-Strategie zeigen: Prozessoptimierung und Digitalisierung sind zwei Seiten einer Medaille. Sie gehen Hand in Hand miteinander.

Interview: Natascha Mörs, iXtenso - Magazin für den Einzelhandel

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