In Asien und insbesondere in China ist Livestream-Shopping bereits seit Jahren weit verbreitet. 10 Prozent des Umsatzes im E-Commerce wird bereits über Livestream-Shopping erwirtschaftet und Experten gehen davon aus, dass dieser Anteil in naher Zukunft auf wenigstens 25 Prozent ansteigen wird.
Von solchen Größenordnungen ist die Retail-Welt außerhalb Asiens noch weit entfernt, doch auch in der USA und in Europa tut sich etwas. Die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Schließungen des stationären Handels haben diese Entwicklung in einem nicht unerheblichen Maß beschleunigt. Wir sprachen mit Alex von Harsdorf über die Faszination von Livestream-Shopping und die Möglichkeiten für Händler.
Herr von Harsdorf, in welchen Bereichen ist Livestream-Shopping besonders beliebt?
Alex von Harsdorf: Die Frage müsste man fast umdrehen und fragen, wo es nicht beliebt ist. Hier kann man in die Zukunft blicken, wenn man den chinesischen Markt beobachtet. Dort reicht die Palette von Bauern, die ihre frische Ernte live in Streams direkt an Konsumenten verkaufen, bis zu Automarken, die zu Rekordzeiten hunderte Autos pro Stunde verkaufen. Im Westen etablieren sich gerade die beiden Bereiche Inspiration und Education. In die erste Kategorie fallen zum Beispiel Mode, Beauty, Interior & Wohnen. In letztere Kategorien wie Consumer Electronics, Baumarkt, Haus & Garten. Die große Chance von Live-Video-Shopping ist es ja, Produkte in ihrem Kontext zu zeigen, zu erklären und spannende Impulse für die Anwendung oder Kombination zu setzen.
Was unterscheidet Livestream-Shopping vom klassischen Teleshopping?
Die Analogie liegt nahe und ist prinzipiell richtig. Bei beiden Formaten geht es um Menschen, die vor der Kamera leibhaftig und überzeugend neue Produkte vorstellen und erklären. Aber vieles ist neu. Da wäre zunächst das Medium. Livestream-Shopping ist prädestiniert für das Smartphone und somit mobil erlebbar. Damit geht einher, dass es – anders als das lineare Shopping-Fernsehen – extrem interaktiv ist. Zuschauer lassen sich nicht nur berieseln und greifen allenfalls zum Hörer, wenn sie dem Kaufimpuls nicht mehr widerstehen können, sondern nehmen über das Smartphone aktiv an den Liveshows teil: durch Fragen, Quizze, Gewinnspiele und Abstimmungen. Gerade durch die Interaktivität entstehen ganz neue Show-Konzepte, die frischer, dynamischer und unterhaltsamer sind, als klassisches Teleshopping es je war. Verkaufen ist beim Livestream-Shopping Nebensache.
Welche Kunden können Händler mit Livestream-Shopping-Events erreichen? Was ist das typische Zielpublikum?
Es ist sehr schwer, beim Livestream-Shopping von einem “typischen Publikum” zu sprechen, da weniger das Format als vielmehr der Inhalt und die vorgestellten Produkte und Marken ausschlaggebend sind. Ich denke, dass Livestream-Shopping all jene anspricht, die bisher wenig Inspiration beim Shopping im Netz finden konnten. Eine Affinität zu Smartphones und Social Media in der Zielgruppe wird auch wenig überraschen. Abgesehen davon gibt es kaum Grenzen.
Welchen Service bieten Sie von LIVEBUY interessierten Händlern an?
Mit LIVEBUY ermöglichen wir es Onlineshop-Betreibern, ihre eigenen Livestream-Shopping-Kanäle zu starten. Die Basis bildet dabei unsere Technologie, die einfach in Webshops oder Mobile Apps integriert werden kann und den Kunden unserer Partnershops den Zugang zu allen Livestreams des Shops ermöglicht. Der Clou ist, dass die gesamte Customer Journey im Webshop stattfindet. Von der Discovery bis zum Checkout. Im Backend lassen sich wiederum Shows planen, Livestreams überwachen und nachträglich Auswertungen und Analysen fahren. Den letzten Baustein bildet unsere Creator App, mit der die Livestreams aufgenommen werden. Shop-Betreiber können damit jeden, den sie wollen, zum Livestream Creator machen. Das können Mitarbeiter, Markenpartner, Verkaufspersonal, Influencer oder ausgewählte Kunden sein. Die Anzahl der Creators oder Shows pro Shop limitieren wir bewusst nicht, da es unser Ziel ist, unseren Kunden möglichst schnell zu einer relevanten Zahl an Shows und Protagonisten zu verhelfen. Für die Bereitstellung der Technologie und das Hosting aller Streams erheben wir eine Pay-Per-View-Gebühr.
Unter anderem mit Douglas realisieren Sie aktuell ein regelmäßiges Livestream-Shopping-Event. Wie wird es angenommen?
Douglas gehört inzwischen zu den Vorreitern von Livestream-Shopping in Europa. Nach ersten Tests während des ersten Lockdowns in 2020 wurde im Oktober letzten Jahres die Anzahl der Liveshows signifikant erhöht und inzwischen in weiteren Ländern wie Italien, Polen, Österreich und die Niederlande ausgerollt. Die Douglas-Chefin Tina Müller hat erst kürzlich erste Kennzahlen publik gemacht. Das Ergebnis: In den Livestreams werden regelmäßig vierstellige Zuschauerzahlen erreicht. Die Conversion Rate liegt bei bis zu 40 Prozent und einige Shows erzielen sechsstellige Umsätze pro Stunde. Das sind sensationelle Zahlen und wenn man bedenkt, wie neu das Phänomen Livestream-Shopping noch ist, bin ich zuversichtlich, dass mit der Zeit noch ganz andere Dimensionen erreicht werden können.
Kann jeder Händler Livestream-Shopping anbieten? Welche (technischen) Voraussetzungen muss er mitbringen?
Wir haben LIVEBUY so entwickelt, dass de facto jeder Webshop zu einer Livestream-Shopping-Plattform aufgerüstet werden kann. Die Livestreams lassen sich dann mit jedem modernen Smartphone vorbereiten und aufnehmen. Die Integration ist in wenigen Schritten erledigt. LIVEBUY funktioniert also überall, unabhängig vom gewählten Shopsystem. Darüber hinaus haben wir inzwischen Partnerschaften mit einigen Agenturen geschlossen, die interessierte Shop-Betreiber sowohl technisch als auch inhaltlich bei der Konzeption unterstützen. Das ist für all jene relevant, die zwar die Chancen von Livestream-Shopping für sich nutzen wollen, aber noch nicht so recht wissen, wie sie das Thema angehen sollen.
Was ist Ihrer Meinung nach das Erfolgsgeheimnis von Livestream-Shopping?
Die Zauberformel lautet: Authentizität, Inspiration und Unterhaltung. Livestream-Shopping schafft es, all das zu vereinen. Durch die Live-Situation entsteht zudem ein Don’t-Miss-Out-Gefühl. Entscheidend ist, dass – anders als bei klassischen Produktbildern, Hochglanz-Videos und Marketing-Creatives – im Livestream nichts geschnitten, editiert und geschönt werden kann. Das lieben die Zuschauer. Durch das Smartphone-Format entsteht zudem eine sehr intime Situation zwischen den Zuschauern im Livestream und den Protagonisten. Wir sehen teilweise Livestreams mit 20 bis 25-minütiger durchschnittlicher Verweildauer, im Rekord lag die durchschnittliche Verweildauer sogar bei über 40 Minuten. Diese Livestreams schaffen es, die Zuschauer abzuholen, einen Spannungsbogen aufzubauen, Highlights zu setzen und weniger zu “senden” als vielmehr die Zuschauer und deren Fragen zu “empfangen”.
Welchen Einfluss hatte und hat die Corona-Pandemie Ihrer Einschätzung nach auf die Entwicklung des Onlinehandels?
Es ist inzwischen ja ein offenes Geheimnis, dass der Onlinehandel überproportional von der Corona-Situation profitiert hat. Das wurde sowohl auf der Nachfrageseite als auch auf der Anbieterseite ganz klar sichtbar. Kundinnen und Kunden, die nicht mehr in den Innenstädten shoppen konnten, haben umso mehr online geshoppt. Auch das Angebot von Livestream-Shopping wäre sicherlich nicht so schnell gewachsen, wenn das Bedürfnis nach multimedialem Shopping durch Lockdown & Co nicht verstärkt worden wäre. Und auf Anbieterseite hat Corona sicherlich mehrere Jahre an Digitalisierung beschleunigt.
Wie wird das Einkaufen in 10 Jahren aussehen?
Das ist nicht leicht zu sagen, denn es gibt inzwischen eine Reihe an neuen Technologien, die bereits Marktreife erreicht haben oder bald erreichen werden. Nachdem sich das Einkaufen in den letzten 20 Jahren sowohl on- als auch offline kaum verändert hat, rechne ich daher in den kommenden Jahren mit einer deutlich schnelleren Entwicklung. Während in den letzten Jahrzehnten im E-Commerce klar die Convenience im Vordergrund stand, rollt jetzt die Inspirationswelle an. Die Kunden online verzaubern und in eine Welt der Ideen, Erlebnisse, Unterhaltung und Möglichkeiten entführen – diese Entwicklung fängt gerade erst an.