Firmennachricht • 04.09.2009

Arbeitest Du noch oder bist Du schon Kunde?

Warum das IKEA-Prinzip nervt und der Self-Service-Dschungel an seine Grenzen stößt

Der Arbeitssoziologe Günter Voß von der TU-Chemnitz hat ausgerechnet, dass IKEA-Kunden beim Aufbau der rund 30 Millionen verkauften Billy-Regale satte 15 Millionen Arbeitsstunden aufgewendet haben. Voß legt für das Zusammensetzen der 12 Teile, 20 Schrauben und ungezählten Nägel 30 Minuten pro Regal zu Grunde. „Das ist knapp gerechnet. Auch Billy-Profis waren einmal Anfänger und brauchen beim ersten Regal sicher länger. Aber geschenkt. Bei einem fiktiven Stundensatz von 8 Euro haben wir in mindestens 15 Millionen Stunden Heimarbeit 120 Millionen Euro für IKEA erwirtschaftet“, so Sigrid Faltin, Autorin des Buches „Scheiterst du schon oder schraubst du noch?“. Für den Kunden sei dies nur schwer nachvollziehbar. Aber IKEA spare enorme Arbeitskosten und sei gar nicht so preisgünstig, wie viele Verbraucher denken, bemerkt Claus Dethloff von der Dienstleistungsberatung „Service Rating“ in Köln.

Das IKEA-Prinzip beherrsche inzwischen weite Teile unseres Lebens, stellt Faltin fest. So müsse man bei vielen Stadtwerken mittlerweile Zählerstände für Strom, Wasser und Gas selbst ablesen. „In der SB-Bäckerei schiebe ich mein Tablett mit den Milchkaffeeresten wie in der Kantine über die klebrigen Überbleibsel von Brötchenkrümeln, Zucker und Pizzakäse an Körben und Regalen vorbei zur Kasse, dabei öffne ich mit der rechten Hand die Plexiglasscheibe und greife links die Zange, damit ich an die supergünstige Riesenpizzascheibe komme. Dabei droht die Pizza auseinander zu brechen. Ich lasse reflexartig die Plexiglasscheibe los, um die Pizza zu retten, da knallt die Scheibe gegen den Fladen, und das Spiegelei fällt kopfüber auf das Tablett und vermischt sich langsam mit den Kaffeeresten“, beschreibt Faltin ihre Self-Service-Frustration.

Ähnlich sieht sie die IT-Welt. Statt in Warteschlangen, würde man sich in Warteschleifen wiederfinden. Oft am Rande der Überforderung, im Kampf mit dem Softwarestress. Mit Verweis auf den ehemaligen Zeiss Jena-Chef Lothar Späth hasse ein guter Ingenieur seine Kunden. Zu diesem Urteil gelangt auch der Schriftsteller und Wissenschaftskenner Hans Magnus Enzensberger: „Wenn sich Bastler, Ingenieure, Programmierer etwas ausdenken, sind sie ausschließlich an den Eigenschaften ihrer Spielzeuge interessiert. Der mögliche Benutzer ist für sie nur ein störender Ignorant. Die Logenbrüder der Technik bilden, ebenso wie die Mediziner, eine Geheimsprache aus, einen Jargon, der ihr Herrschaftswissen sichern soll. Das war schon bei den Buchdruckern so, die ausgesprochene Initiationsriten kannten.“ Ebenso stolz waren die High-Fidelity-Spezialisten auf die Unverständlichkeit ihrer Produktbeschreibungen, und die Computerentwickler und Software-Ingenieure hätten diese Art der Selbstreferenz auf die Spitze getrieben. Die Suche nach Zwecken für die vorhandenen und exponentiell zunehmenden technischen Mittel nehme zuweilen groteske Formen an. Die elektronische Speisekarte soll den Kellner ersetzen, der Multimedia-Kühlschrank automatisch einkaufen (ein Dauerbrenner bei den Visionären für Künstliche Intelligenz), das angeblich intelligente Haus für Beschallung sorgen. Die Konsumgesellschaft sollte daher genau überlegen, ob sie sich den Phantasien ihrer Ingenieure unterwirft. Faltin sieht einen tiefen Graben zwischen IT-Experten und Anwendern. So fühlen fast zwei Drittel der IT’ler eine zu geringe Wertschätzung von den gequälten Self-Service-Anwendern. Rund 78 Prozent der Anwender wiederum ärgern sich über das Fachchinesisch der IT-Welt.

Gleiches spielt sich im Mobilfunk ab. Das Ansehen dieser Branche rangiere auf dem Niveau von Inkassounternehmen, bemerkt Kai Czeschlik, verantwortlich für Kundenservice beim Anbieter Telefonica O2. Man müsse das Leben der Kunden erleichtern und einfacher machen. Das fange bei der Bedienmenü für Handys an und höre bei verständlichen Tarifen auf. „O2 hat seine Tarifstruktur von 32 auf 3 Tarife verschlankt. Kein Kunde versteht, dass er nur zu dieser oder jener Zeit in dieses oder jenes Netz telefonieren darf, oder dass er nur 100 SMS versenden kann und es danach richtig teuer wird. Wir wollten keine Sternchentexte in unseren Verträgen, sondern eine clevere und einfach Struktur“, erklärt Czeschlik. Deshalb habe man einen „Airbag“ als Kostenlimit eingeführt – ohne Vertragslaufzeiten. Um die Kundenerlebnisse nachzuvollziehen, wurde in seinem Unternehmen eine halbe Etage abgesperrt. „Insgesamt gibt es dort acht Stationen, eine davon ist ein schwarzer Raum, in dem nur Werbung eingespielt wird, eine echt Überflutung mit Informationen. In der nächsten Station wird dargestellt, was in einem Shop oder an der Hotline passiert. Testteilnehmer rufen die Hotline an, geben sich als Kunde aus und erfahren, wie dem Anrufer dort ergeht. In der nächsten Station bekommen sie die erste Rechnung und werden gefragt, ob alle Rechnungsdetails verständlich sind. Es geht weiter und man erhält ein Headset mit der Aufforderung, eine Einstellungsänderung vorzunehmen, etwa: Lieber Kunde, konfigurieren Sie bitte die MMS-Einstellung“, sagt Czeschlik. An einem PC-Terminal sei die Aufgabe zu lösen, unter den Self-Services die eigene Adresse zu ändern. Im nächsten Raum gehe es um Kündigungen. „Wir haben also alles nachgebaut: Welche Informationen, Services und Reizüberflutungen dem Kunden zugemutet werden und wo er alleine gelassen wird“, sagt der Servicespezialist. Auch das komplette Management müsse diese Stationen durchlaufen. Nur so sei es möglich, Serviceerlebnisse zu verbessern und immer die Kundenbrille aufzuhaben. Kundenservice dürfe nicht am Ende der Nahrungskette stehen. Die gesamte Produkt-, Tarif- und Kampagnenplanung müsse sich von Anfang an damit auseinandersetzen. Das gelt vor allem für die Interaktion von Mensch und Maschine. Selbstbedienungs-Service dürfe nicht Selbstzweck sein und dem Kunden aufgezwängt werden, so das Credo von Czeschlik, der beim Strategietag des Nürnberger Fachkongresses Voice Days plus am 6. Oktober mit Vertretern der Deutschen Bank und Perry & Knorr über Sinn und Unsinn von Sprachcomputern diskutieren wird.

Voice Days plus-Sprecher Bernhard Steimel sieht einen Gegentrends im Self-Service-Dschungel. „Viele haben erkannt, dass man einen Kunden nicht zum willigen und billigen Helfer in einer Service-Reparaturwerkstatt degradieren darf, der nur mit Ingenieursdiplom Geräte benutzen und Bedienungsanleitungen verstehen kann. Es muss einen intelligenten Mix aus Automation und persönlichen Dienstleistungen geben. Wenn ich nur Öffnungszeiten oder Abfuhrtermine für Sperrmüll erfragen will, reicht ein Sprachcomputer. Bei komplexen Beratungsthemen sollten kompetente und freundliche Mitarbeiter zur Verfügung stehen. Ignorante Call Center-Mitarbeiter, die sich über Kunden lustig machen, weil sie bei der Installation eines DSL-Anschlusses nicht wissen, was ein Speedport oder DSL-Splitter ist, sollten sofort an die Luft gesetzt werden. Ich möchte schließlich nur telefonieren oder ins Internet gehen, ohne sofort Kenntnisse eines Fernmeldetechnikers vorzuweisen“, so Steimel.

Als Gegenbewegung sieht er vor allen Dingen die Design Thinking-Projekte des Hasso-Plattner-Instituts (HPI) in Stanford und Potsdam. Dort werden Innovatoren ausgebildet, die Technologie nicht am Menschen vorbeiplanen. „Das funktioniert nur mit einem interdisziplinären Ansatz, wie ihn das HPI praktiziert. Komplexe Probleme brauchen komplexes Denken und das ist nur in sehr heterogenen Teams vorhanden. Der geniale Daniel Düsentrieb-Erfinde alleine reicht heute nicht mehr aus“, resümiert Steimel. Design Thinking-Projekte, die die Interaktion mit Kunden verbessern, werden auf den Voice Days plus vorgestellt.
 

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