Globalisierung bedeutet unter anderem, dass Verbraucher jedes Produkt von überall herbekommen können. Ein Salatkopf kann auf seinem Weg vom Herstellungsort in den Supermarkt schon mehr Kilometer hinter sich gebracht haben als so manche Salatliebhaber, die in den Sommerurlaub fliegen. Das mag nicht nur aus ökologischen Gründen kein Zukunftskonzept sein – es ist inzwischen auch nicht mehr das, was viele Verbraucher wollen. Im Kleinen gibt es dafür erste Ansätze zur Lösung.
Wo kommt mein Essen her und wie wird es produziert?
Vielleicht hat es mit ‚Urban Gardening‘ angefangen: Stadtbewohner haben gemerkt, dass sie auf die Vorteile des Landlebens – Gärten, Gemüsebeete, frische grüne Lebensmittel – auch in Großstädten zwischen all dem Asphalt und Beton nicht verzichten wollen und haben an Straßenrändern, in Hinterhöfen und auf Dächern gepflanzt. Zum einen wächst das Bewusstsein für Themen wie Lokalität, Lebensmittelqualität, Nachhaltigkeit und Umweltschutz unter Konsumenten. Immer mehr Kunden wollen wissen: Unter welchen Bedingungen werden die Lebensmittel hergestellt, die ich verwende? Und wie weit und wie lange ist mein Essen unterwegs, bevor es auf meinem Teller landet? Zum anderen steigt die Herausforderung, eine wachsende Weltbevölkerung und urbanisierte Gesellschaften mit gesunden Lebensmitteln zu versorgen. Neue Konzepte wie selbstversorgende Städte werden unter diesen Bedingungen von Visionen zu Notwendigkeiten.
Vertical Farming: Die Landwirtschaft will hoch hinaus
Aus dieser Situation heraus entwickeln sich auch in der Landwirtschaft neue Konzepte. Was tut man, wenn die Fläche für den Anbau von landwirtschaftlichen Produkten begrenzt ist, der Bedarf aber steigt? Richtig, man baut nicht mehr traditionell horizontal an, sondern vertikal. Dank ‚Vertical Farming‘ lässt sich in übereinander stapelbaren ‚Beeten‘ auf vergleichsweise kleiner Fläche mehr produzieren.
Dabei kommt die Hydroponik zum Einsatz: Statt in Erde werden die Wurzeln der Pflanzen in kleine, mit Nährstoffen angereicherte Wasserströme gesteckt. Mithilfe von LED-Technologie ist die künstliche Beleuchtung effizient gestaltet. Die Pflanzen erhalten alles, was sie zum Gedeihen brauchen.
Beim ‚Indoor Farming‘ kommt noch hinzu, dass Umweltfaktoren wie Temperatur, Licht und Feuchtigkeit kontrollierbar sind. Ein geringerer Verbrauch von Rohstoffen und weniger Bedarf an Pestiziden sind positive Folgen.
In einigen großen Städten lassen sich nun Firmen nieder, die diese beiden Systeme verbinden: Sie bauen in Lagerhäusern oder Containern mitten in der Stadt Nutzpflanzen an und beliefern damit Supermärkte, Lebensmittelgeschäfte und Restaurants. Im Sinne des Kundenmarketing können Einzelhändler noch einen Schritt weitergehen und frische Lebensmittel, die sie verkaufen, im Laden produzieren (oder produzieren lassen).
Einzelhändler als Gemüsebauern
Was Firmen wie Infarm bieten, bringt die vertikale Landwirtschaft nicht nur in die Stadt, sondern auch direkt ins Geschäft. Infarm aus Berlin vermietet modulare vertikale Farmen, also kleine Indoor-Gewächshäuser, an Unternehmen. In diesen Indoor-Farmen können Kräuter-, Kohl- und Salatpflanzen direkt am Point of Sale gezüchtet und somit erntefrisch an Kunden verkauft werden. Osnat Michaeli, Mitgründerin und Chief Brand Officer bei Infarm nennt das „Farming as a Service“.
Die Farm-Module von Infarm sind mit einer Cloud-basierten Anbauplattform verbunden, über die sich Umgebungswerte im Modul auslesen und auswerten lassen. Sensoren messen Faktoren wie Feuchtigkeit, Kohlenstoffdioxidgehalt oder Lichtintensität. Infarm-Mitarbeiter können diese dann aus der Ferne optimal aussteuern und das Pflanzenwachstum überwachen. Geerntet und neu gepflanzt werden die Produkte ebenfalls von Infarm-Angestellten vor Ort. „Eine Infarm-Einheit braucht weniger als zwei Quadratmeter Fläche. Die Infarm-Technologie ist also speziell darauf ausgelegt, überall, in jedem verfügbaren Raum eingesetzt werden zu können“, erklärt Michaeli.
Werden frische Waren so praktisch vor den Augen der Verbraucher produziert, ist verständlich, wenn sie den Produktionsprozess als transparenter erleben und dadurch mehr Vertrauen in das Produkt entwickeln. Darauf hoffen Händler, die diese Technologie einsetzen.
In Deutschland hat sich unter anderem ALDI Süd für diese Lösung entschieden. Bis Ende 2020 sollen zwölf Filialen mit den Infarm-Farmen ausgestattet sein. Auch in anderen Ländern breitet sich dieses Angebot aus. Marks & Spencer hat mehrere Geschäfte in London mit Infarm-Modulen ausgestattet. Joe Erskine, Store Manager der M&S Food-Filiale Clapham Junction, dem ersten Teststandort für Instore Farming, rekapituliert: „Unsere Farming-Einheit wurde zum absoluten Gesprächsthema, seit wir im September wiedereröffnet haben, und sie hilft, die Wahrnehmung von M&S Food in der Umgebung zu wandeln. Die Farm bringt ein Gefühl echter Frische in unser Warenangebot und Kunden haben sich auch sehr für die Nachhaltigkeitseffekte interessiert.“ Director of food technology von M&S Food, Paul Willgoss, erklärt die Beweggründe in einem Interview mit dem European Supermarket Magazine: „Wir sind Teil einer komplexen globalen Lebensmittelkette und wollen verstehen, welche aufkommenden Technologien helfen können, nachhaltigere Lösungen zu finden.“
In den USA arbeitet der Landwirtschaftsbetrieb Altius Farms in Denver, der ebenfalls hydroponisch und vertikal anbaut, eng mit lokalen Händlern und Gastronomen zusammen. Er beliefert seine Partner mit frischen Agrarprodukten und führt mit ihnen gemeinsam Promotion-Aktionen wie Verkostungen im Store durch. „Mit kleinen Lebensmittelhändlern funktioniert die Zusammenarbeit wunderbar, sie sind echte Partner für unsere Vorhaben“, sagt Sally Herbert, Altius Farms Mitgründerin und CEO. „Immer, wenn wir samstags eine Vorführung im Lebensmittelhandel veranstalten, merken wir einen Anstieg der Verkäufe.“
Und auch über soziale Medien lässt sich ein solches Projekt gut vermarkten. Partner von Altius Farms verknüpfen das beispielsweise mit Rezeptideen und Zubereitungstipps für einzelne Produkte.