Dass Kund*innen beim Onlineshopping Produktbeschreibungen sowie Bilder oder Videos zur Veranschaulichung finden, ist inzwischen Standard. Aber nur, weil Konsument*innen eine Vorderansicht sehen oder mithilfe eines Maßbands die Größe einschätzen können, muss das als wertvolle Information für die Kaufentscheidung nicht in jedem Fall ausreichen. Viele Online- und Omnichannel-Händler*innen versuchen daher, ihrer Kundschaft die Entscheidung für ein Produkt zu erleichtern, und nutzen dafür Technologien wie künstliche Intelligenz und Augmented Reality (AR).
Auch Konsument*innen, die nicht in den Laden gehen, um Artikel aus- und anzuprobieren, sollen mit ihrer Kaufentscheidung möglichst zufrieden sein, wenn es nach den Retailern geht. Das verringert nicht nur Retouren, sondern stärkt auch die Bindung ans Unternehmen und die Weiterempfehlungsrate.
Die virtuelle Anprobe am heimischen PC oder am eigenen Smartphone wird dabei immer beliebter – und von Unternehmen in einigen Handelssektoren stark vorangetrieben. Diesen Trend bestärkt die technologische Weiterentwicklung: AR-Anwendungen werden leistungsfähiger, Kameras und Webcams besser und die Software im Hintergrund kann Bilder in Sekundenschnelle rendern, die einen guten Live-Eindruck der erweiterten Realität geben.
Virtual Try-On: Onlineshopping mit Webcam und Avatar
Die Bandbreite der Produkte, für die AR-Try-Out angeboten wird, erweitert sich ständig. Für einige Produktkategorien liegt es nahe, bei anderen sind die Hürden größer, die Lösungen vernünftig umzusetzen, damit ein echter Mehrwert für Kund*innen generiert wird.
Schmuck, Brillen und Accessoires sind inzwischen in der Virtual-Try-On-Welt angekommen, genau wie Möbel und Deko-Artikel. Die derzeitigen Angebote eignen sich gut für einen ersten Eindruck des Produkts: Steht mir die Armbanduhr? Wie macht sich das Sofa in meinem Wohnzimmer?
Bei Kleidung und Schuhen sieht die Sache etwas anders aus. Anbieter*innen arbeiten fieberhaft daran, die virtuelle Anprobe von Kleidungsstücken zu ermöglichen. Da hier aber ganz individuelle Körpermaße und -formen mit dem hohen Komfortanspruch gutsitzender Bekleidungsartikel zusammenkommen, ist die Herausforderung enorm groß. Viele Shopper können sich nicht vorstellen, gänzlich auf das „echte“ Anprobieren zu verzichten.
Neben der Qualität der Anwendung spielt hier auch der betriebene Aufwand für die Aufnahme eine Rolle: Werden beispielsweise aus einzelnen Fotos und Maßen 3D-Modelle eines Körpers errechnet oder wird ein komplexer 3D-Ganzkörper-Scan vorgenommen? Konsument*innen könnten ihre detaillierten 3D-Avatare zukünftig auch für umfangreiches Onlineshopping bei mehreren Anbietern nutzen.
Im Bereich Kosmetik und Make-up ist das Angebot an virtuellen Anproben meinem Eindruck nach am weitesten fortgeschritten. Viele Kosmetikhersteller*innen und -händler*innen bieten in ihren Webshops sowohl direkt an den Produkten als auch über das Hauptmenü die Virtual-Try-On-Funktion an.
Gerade in der Beauty-Branche treffen solche Anwendungen bei Nutzer*innen auf große Beliebtheit. Hier zeigt sich auch bereits, wie viel Potenzial in der Verbindung von E-Commerce und Social Media steckt. Auf Plattformen wie Pinterest und Snapchat probieren Nutzer*innen Kosmetikprodukte aus, posten die AR-Vorschläge auf ihren Kanälen und können bei einigen Anbietern direkt in den Webshop gelangen, um die Artikel zu erstehen.
Personalisierte Beratung online anbieten mit virtuellem 3D-Avatar
Als der eine große Vorteil des stationären Handels gegenüber dem Onlinehandel wird oft die Möglichkeit zur persönlichen Beratung aufgeführt. Online- und Omnichannelhändler*innen geben ihr Bestes, um dieses Angebot auch online umzusetzen, beispielsweise via Chat, Videocall oder mit „Click-Through“-Beratungstools auf der Webseite. Kompetente Beratung, aber auch Personalisierung spielen eine immer entscheidendere Rolle, um aus interessierten Konsument*innen Käufer*innen zu machen.
Welches Produkt passt zu meinen Bedürfnissen, zu meinem Stil, zu mir? Die Wichtigkeit, diese Frage für Konsument*innen gut zu beantworten, hat auch das Start-up Motesque erkannt, das sich auf Biomechanik und maschinelles Sehen spezialisiert hat. Laut einer Studie des ECC Köln und Motesque sind passende Produktempfehlungen nicht nur ein wirtschaftlicher Erfolgsfaktor. Viele Konsument*innen schätzen die Beratung durch moderne Technologien und Algorithmen.
Und zusammen mit SIGNA Sports United wollte Motesque das auch direkt für ein Produkt umsetzen, bei dem man das vielleicht weniger erwartet hätte: das Fahrrad! In einer Pressemitteilung im Oktober 2021 von SIGNA Sports United wurde erklärt: „Gemeinsam wollen [SIGNA und Motesque] die erste biomechanische, KI-basierte virtuelle Fahrradanpassungsmaschine für den Online-Einkauf von Fahrrädern auf den Markt bringen. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Metriken generiert diese Lösung einen individuellen 3D-Avatar des Kunden, der virtuell auf verschiedenen Fahrrädern fährt, und ermöglicht so maßgeschneiderte Empfehlungen für die Fahrradgröße und -anpassung. Mit dieser revolutionären Fitting-Engine wollen beide Partner die Lücke zwischen Offline- und Online-Shopping weiter schließen.“
Im März 2022 folgte die Meldung: Im Onlineshop fahrrad.de können Kund*innen mit dem Tool MQ Fit Bike Fahrräder online „anprobieren“.
Der Möglichkeit der virtuellen Anprobe scheinen wirklich keine Grenzen gesetzt zu sein. Es bleibt nur zu beobachten: Ist die Technologie schon weit genug vorangetrieben? Wie ausgiebig und für welche Produkte werden Konsument*innen Virtual Try-On zukünftig nutzen? Und wie profitieren Handelsunternehmen von diesen Service-Angeboten? Wir sind gespannt.
Weitere spannende News und Berichte rund um Technologien für den Handel findet ihr in unserem Technology Special zur EuroCIS 2022.