Stationäre Händler stehen unter enormem Druck: Konkurrenzkampf, Preisdruck, ein sich veränderndes Konsumverhalten. Einen eigenen Onlineshop einrichten? So einfach ist die Antwort auf dieses Problem nicht.
Das findet auch Thomas Wetzlar, Geschäftsführer der Scalerion GmbH. Er entwirft in unserem Interview eine Vision, wie Handel aussehen könnte, der sich auf seine Kernkompetenzen besinnt und dennoch das Beste aus den Möglichkeiten der digitalen Technologien macht.
Herr Wetzlar, welche Entwicklung sehen Sie im Konsumgütermarkt?
Waren werden mittlerweile über viele verschiedene Vertriebskanäle in den Markt hineingeleitet und es herrscht ein erheblicher Wettbewerb sowohl zwischen Herstellern als auch zwischen Händlern. So kommt es zu einem Überangebot an Waren, die von Endverbrauchern nicht abgenommen werden. Der Warendruck ist schlicht sehr groß, insbesondere in Produktkategorien, die einen saisonalen Einspeisungsrhythmus haben. Deshalb haben wir erhebliche Preisverfallstendenzen. Wir beobachten bei saisonalen Produkten wie Grills und Gartenzubehör, aber auch bei Bekleidung und Schuhen, dass schon, bevor tatsächlicher Bedarf bei Endkunden entsteht, große Reduzierungswellen durchgelaufen sind.
Und das bedeutet für den Händler, ...
... dass er sein Sortiment auf die Artikel ausrichtet, bei denen er einen hohen Abverkaufswert erwartet. Nur wenn er möglichst viele Produkte zum vollen Preis absetzen kann, verdient er nach Abzug aller Kosten daran. Das wiederum führt dazu, dass sich zwar bestimmte Produkte sehr gut verkaufen, aber vieles von dem, was Vielfalt ausmacht und Abgrenzungspotentiale zu Wettbewerbern bieten könnte, findet oftmals nur schwer Eingang in die Sortimente. So erhöht der Handel zwar seine Rentabilität, senkt aber gleichzeitig die eigene Relevanz. In Zeiten hoch mobiler Endverbraucher ein gefährlicher Weg.
Dieser Situation setzen Sie jetzt ein innovatives Handelskonzept entgegen. Wie sieht das aus?
Die größten Onlinehändler haben früh erkannt, dass sie selbst mit ihren fußballfeldgroßen Lägern nie alles vorrätig haben können. So entstanden Onlinemarktplätze. In diesem Zusammenhang fragten wir uns, weshalb es stationären Händlern nicht ebenfalls möglich sein sollte, ihren exponierten Kundenzugang auch ohne den Aufwand und die Risiken eigener Warenbestände zu monetarisieren. Daher möchten wir Einzelhändlern und der Konsumgüterindustrie die Möglichkeit geben, sich auf neue Art und Weise miteinander zu vernetzen. Unsere Idee: Produzenten integrieren den stationären Einzelhandel als Marktplatz in ihr Direktvertriebsgeschäft. Der stationäre Fachhändler öffnet seine Kundenbasis also für die Verkäufe von Dritten, von denen er dann eine Provision erhält.
Wie kommt Ihre Plattform da ins Spiel?
Mit Scalerion.com haben wir eine Plattform entwickelt, die Händler in die Lage versetzt, Marktplatz zu werden. Handel und Industrie sollen sich auf Scalerion.com vernetzen und auf Basis der vom Hersteller aktivierten Produkte gemeinsam entscheiden, welche Waren zu welchen Provisionen vertrieben werden sollen – individuell für jeden Partner.
Präsentiert der Handel die neuen Produkte mit probierbaren Mustern, schafft er bei geringstem Platzbedarf erlebbare Angebote und sorgt gleichzeitig für eine hohe Vorqualifizierung der Kaufentscheidungen. Das senkt die Retourenquote. Die Scalerion POS-App verarbeitet alle Transaktionsdaten und Zahlungen auf standardisierte Weise und funktioniert unabhängig von den ERP-Systemen des Handels. Alle Bestellungen werden in Echtzeit durch die Hersteller bearbeitet und direkt an die Kunden ausgeliefert.
Was hat denn der Händler davon?
Händler fühlen sich nicht mehr gezwungen, hauptsächlich Artikel anzubieten, mit denen sie auskömmliche Abverkaufswerte erzielen, und können so ein breiteres Produktportfolio anbieten. Der Lieferant kann Händlern für einzelne Artikel unterschiedlich hohe Provisionen vorschlagen und seine Produktgruppen strategisch und individuell anbieten. Der Händler kann natürlich ebenso frei entscheiden, welche Angebote er annehmen möchte.
Oft hört man den Rat, selbst kleinste Händler sollten sich Onlineshops zulegen und versuchen Versandhändler zu werden. Wir halten das für falsch. Wir möchten Händler in die Lage versetzen, sich auf das zu konzentrieren, was sie am besten können: Warenpräsentation, Kundenberatung und Service. Zudem sind gerade Händler diejenigen, die ihre Kundschaft und deren Interessen kennen und auf dieser Basis Sortimente bilden kann. Mit diesen Fähigkeiten ist der Handel für die Wertschöpfungskette wichtig, diese Position sollten wir stärken.
Und Sie meinen, die Kunden nehmen das an? Gehen die nicht in die Stadt, um ihren Einkauf gleich mitnehmen zu können?
Ich glaube, der große Erfolg des Onlinehandels und die gleichzeitig sinkenden Frequenzen in den Geschäften unterstreichen, dass dem Endverbraucher das "Sofortmitnehmen" gar nicht so wichtig ist, wie viele denken. Was Kunden reizt, ist Vielfalt, generelle Verfügbarkeit und Inspiration. Wir geben Endverbrauchern die Möglichkeit, eine große Vielfalt an Waren zu erleben. Damit erhöhen wir die Attraktivität von Geschäften und Innenstädten.
Schauen Sie sich kleinere Städte wie Donaueschingen oder Castrop-Rauxel an: In solchen Orten finden Sie kaum noch relevanten Einzelhandel. Das hat aber nichts damit zu tun, dass vor Ort keine Kaufkraft bestünde. Kein Geschäft der Welt kann nach dem alten Geschäftsmodell eine so große Vielfalt zeigen, dass es mit dem Internet mithalten könnte. Durch unsere Plattform haben Händler die Chance abwechslungsreiche Sortimente zu präsentieren, ohne riesige Warenmengen quer durch die Republik bewegen zu müssen. Das schafft neue Einkaufswelten. Wir müssen einfach mal versuchen, Handel neu zu denken. Das wird durch Technologie signifikant erleichtert.