Ob Bus, Zug, S-, oder U-Bahn – der Öffentliche Personen Nahverkehr soll mehr genutzt werden. Doch warum eigentlich nur von uns Menschen? Das haben sich auch die Köpfe hinter dem Projekt „CargoSurfer“ gefragt. Prof. André Ludwig von der Kühne Logistics University und Projektkoordinatorin Anja Sylvester von der LaLog LandLogistik GmbH haben uns erzählt, was genau hinter der Idee steckt, wie die Umsetzung in der Praxis aussieht und warum ein Umdenken immer wichtiger wird.
Welche Probleme sehen Sie, wenn Sie sich die logistischen Voraussetzungen auf dem Land anschauen?
Anja Sylvester: Die Wirtschaftskraft im ländlichen Raum sinkt durch die Urbanisierung seit Jahren. Gleichwohl bezeugen Studien das enorme Potenzial des ländlichen Raums und fordern Investitionen in dessen Zukunft. Dabei stellt Logistik eine Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg dar. Aufgrund kleiner Mengen und großer Entfernungen sind klassische Distributionssysteme von KEPs (Kurier-/Express-/Paketdienstleistern) und Speditionen auf dem Land häufig nicht rentabel – ganz zu schweigen vom eigenen Fuhrpark lokaler Unternehmen und Betriebe.
Wie könnten diese Mankos denn behoben werden?
André Ludwig: Der beste Weg zur schnellen Verbesserung der Logistik ist die konsequente Nutzung freier Transportkapazitäten von bereits geplanten Fahrten. Ein flächendeckendes Angebot ergibt sich durch die zusätzlichebeziehungsweise kombinierte Frachtmitnahme im Personentransport, insbesondere auf Straße und Schiene im öffentlichen Personenverkehr – also dem ÖPNV. Das ist der Grundgedanke hinter unserem Projekt „CargoSurfer“.
Welche Rolle spielen geänderte Kundenansprüche und der Wandel der Gesellschaft?
Sylvester: Ein Zusammenspiel verschiedener Phänomene entfaltet aktuell seine Wirkung und fordert neue Lösungen in der Logistikbranche: Der demografische Wandel im ländlichen Raum, der stetige Fortschritt der Digitalisierung, die Konzentrationsstrategie der Wirtschaft, aktuell die Energiekrise, der Personalmangel oder ein fehlendes Systemdenken, aber auch steigendes Umweltbewusstsein und Convenience von uns als Endverbraucher*innen führen zu Veränderungen. Der »CargoSurfer« kann einige Herausforderungen abmildern, wird einige Denkanstöße geben, wie Synergien genutzt werden können und das wäre dann bereits ein voller Erfolg.
Und dafür haben Sie etwas entwickelt, richtig?
Ludwig: Genau, wir an der Kühne Logistics University (KLU) entwickeln im Rahmen der CargoSurfer-Plattform auf Techniken der künstlichen Intelligenz (KI) aufbauende Prognose- und Steuerungsverfahren, um die im ÖPNV transportierte Fracht zuverlässig ans Ziel zu bringen.
Welche Vorteile bieten sich dadurch Händler*innen und Kundschaft?
Sylvester: Da lassen sich einige aufzählen:
- Stärkung der Logistikbeziehungen zwischen Land und Stadt
- Schaffung einer neuen Logistikoption für lokale und überregionale Warentransporte
- Erschließung neuer Absatzmärkte für regionale Produzenten und Händler
- Zeit- und Kostenersparnis für Betriebe und Endkunden durch den Wegfall eigener kostspieliger Fahrten
- Vernetzung und bessere Auslastung bestehender Fahrten
- Zusätzliche finanzielle Deckungsbeiträge für Transporteure und ÖPNV durch Gütermitnahme
Aber auch für unsere Kommunen bieten sich Mehrwerte: Die regionale Wertschöpfungskette wird gesteigert, es werden neue Geschäftsmodelle entwickelt, wodurch auch neue Arbeitsplätze geschaffen oder bestehende stabilisiert werden. Auch die Nahversorgung und Nahmobilität werden verbessert. Ein weiterer Pluspunkt: die Reduktion von Emissionen durch die Nutzung bestehender Fahrten (Klimaschutzstrategie). Außerdem werden weniger Flächen genutzt.
Das mFUND-Projekt »CargoSurfer« setzt insgesamt auf diversen Machbarkeitsstudien auf, die maßgeblich von der LaLoG LandLogistik GmbH initiiert und bearbeitet wurden. Dazu zählen insbesondere die beiden Vorläuferprojekte »kombiBAHN Nordhessen« (BMDV mFUND-Förderung) und »MikroLogistik SPESSARTregional« (Leader-Förderung durch SPESSARTregional e.V.). Die neben der LaLoG LandLogistik am »CargoSurfer« beteiligten Projektpartner cantus Verkehrsgesellschaft, Regionalverkehr Main-Kinzig, Trapeze Group, Behindertenwerk Main-Kinzig, Gutes aus Waldhessen, Spessard Regional konnten für das Projekt gewonnen werden, um die Umsetzung in zwei Projektregionen in Hessen zu erzielen.
Wie genau kann ich mir das Ganze in der Umsetzung vorstellen: Ein Paket „steigt“ in den Zug und was dann?
Ludwig: Die Gütermitnahme in der Regionalbahn erfolgt im Zusammenspiel mit einem Dienstleister. Diejenigen Bahnstationen, die für logistische Tätigkeiten geeignet sind, werden nicht nur über einen sogenannten MikroHub verfügen, an dem die Fracht gepuffert und zwischengelagert werden kann, sondern es wird auch sichergestellt, dass ein Logistikpartner die gesammelten Sendungen zur Bahn bringt und von dort auch wieder abholt. Hingegen können Zubringer- und Abholfahrten von den Warenversender*innen und -empfänger*innen, aber auch durch die Logistikdienstleister selbst übernommen werden. Es sind also Menschen beteiligt, die den Paketen beim „Umsteigen“ helfen und die letzte Meile mit ihnen beispielsweise im Kleintransporter zurücklegen.
Nochmal zurück zum „Backoffice“: Welche Technologien werden im „CargoSurfer“ eingesetzt?
Sylvester: Die CargoSurfer-Plattform entsteht auf Basis einer bereits auf dem Markt eingeführten On-Demand-Software-Anwendung der Trapeze Group Deutschland GmbH zum Buchungs- und Transportmanagement im Personenverkehr. Teil der Plattform werden verschiedene mobile Apps, mit denen Versender*innen, Fahrer*innen, Empfänger*innen oder Dienstleister im Umschlag in den Prozess eingebunden und mit den nötigen Informationen versorgt werden.
Welche Funktionen sind das?
Ludwig: Beispielsweise Buchungen auslösen, über Verspätungen oder geplante Umschläge informieren oder auch die Zustellung quittieren. Zur Sicherstellung der zuverlässigen Transportausführung prognostiziert ein KI-basiertes Prognose- und Steuerungssystem zeitliche Verspätungen und daraus entstehende Anschlusskonflikte. Auf dieser Basis werden korrigierende Maßnahmen abgeleitet, die beispielsweise von der Information aller Prozessbeteiligten bis hin zur Umplanung des Transportablaufs reichen können.
Was müssen Händler*innen tun oder bereitstellen, um den „CargoSurfer“ nutzen zu können?
Sylvester: Um den »CargoSurfer« nutzen zu können, benötigen Handler*innen mindestens ein mobiles Endgerät. Nach einer Registrierung im System und Freischaltung, kann der Transportauftrag darüber ausgelöst und nachverfolgt werden. Neben der mobilen Anwendung werden aber auch APIs (Application Programming Interfaces) bereitgestellt, mit denen sich die CargoSurfer-Plattform direkt mit dem Warenwirtschaftssystem eines Handelsunternehmens verbinden lässt.
Das Projekt hat seit dem Start an Fahrt aufgenommen: Was ist derzeit der Stand der Dinge und was ist für die Zukunft geplant?
Ludwig: Das Projekt befindet sich aktuell in der Entwicklung und Anpassung der Software-Anwendung. In den vergangenen Monaten haben wir umfangreiche Persona-Analysen und Nutzerumfragen durchgeführt, um Logistikprozesse praxisnah digital abbilden zu können und das System an den Anforderungen der Nutzer*innen auszurichten. Zudem hat die KLU an der KI-Prognosemodellierung gearbeitet, um das Störungsmanagement methodisch dem »CargoSurfer« zur Seite stellen zu können. Eine erste Prototyp-Anwendung ist für Spätsommer 2023 geplant, um mit Testnutzern in den beiden Projektregionen das Instrument zu prüfen.
Ein Blick in die Zukunft: Was glauben Sie, wie sehen Lieferungen und Zustellungen in 15 bis 20 Jahren aus?
Ludwig: Bezogen auf die Kombination von Güter- und Personentransporten werden Kundenbestellungen in 15 bis 20 Jahren adressenscharf gebündelt, kommissioniert und lokal ausschließlich über einen einzigen Ladeflächenanbieter in der Fläche über zentrale Hubs ausgeliefert und verteilt. Um für weniger Verkehr zu sorgen, kooperieren alle Fuhrunternehmen, Post- und Paketdienstleister miteinander in Stadt und Land. Städte und Gemeinden stärken dieses Verhalten mit einem Bonus- und Malus-System.
Sylvester: Insgesamt werden Personen- und Güterverkehr als System verstanden, geplant und umgesetzt. Dies wirkt sich bis zum Fahrzeugdesign und zur Infrastrukturnutzung aus. Anbieterübergreifende Paketstationen, standardisierte, automatisiert fahrende Behältnisse und Peoplemover, ein White-Label-Paketaufkleber, der lokale 3D-Druck, aber auch entsprechende Regulierungsanpassungen runden das Thema ab, um eine wirtschaftlich darstellbare inter- und multimodale Transportkette zu ermöglichen, Entfernungen zu reduzieren und Nahversorgung insbesondere im ländlichen Raum aufzubauen.