Frisch oder stirb
Was Kunden von Onlinebestellungen frischer Lebensmittel abhält
Mit dem Start von Amazon Fresh in Deutschland erreicht der Wettbewerb im Lebensmittelhandel eine neue Dimension. Deutschland blickt zudem gebannt nach Westen, wo Amazon gerade die Übernahme der US-amerikanischen Supermarktkette Whole Foods plant. Im Zentrum der Aktivitäten von Amazon stehen Frischwaren - bislang die Domäne der etablierten stationären Händler.
Bei einem überzeugenden Onlineangebot könnten Internet- beziehungsweise Multikanal-Supermärkte jedoch bereits 2020 sechs bis acht Milliarden Euro des Umsatzes im Lebensmitteleinzelhandel aus dem Netz erwirtschaften - zulasten des stationären Handels. 2.000 Märkte stünden auf dem Spiel. Was die Situation verschärft: Nur jeder fünfte Deutsche ist davon überzeugt, dass Frischwaren in Supermärkten auf Dauer qualitativ hochwertiger sind. Das zeigt eine aktuelle Befragung der Strategieberatung Oliver Wyman. Mit einem funktionsübergreifenden Ansatz können Vollsortimenter wie Discounter kontern und den Frischegrad ihrer Produkte erhöhen. Es winken Umsatzzuwächse in der Frische von bis zu 10 Prozent bei gleichzeitig signifikanter Verbesserung der Profitabilität.
Salat oder Erdbeeren per Mausklick? Noch beäugen die Deutschen solche Angebote im Internet skeptisch. Das zeigt eine im Mai und Juni 2017 von Oliver Wyman durchgeführte Umfrage unter 1.000 Verbrauchern mit Schwerpunkt auf den internetaffinen Altersgruppen zwischen 18 und 49 Jahren. 44 Prozent der Befragten erklärten, dass sie der Produktqualität bei Onlinebestellungen von Frischwaren misstrauten. Weitere Barrieren sind höhere Preise und zu lange Lieferzeiten. Bei einem guten, sprich mit dem stationären Handel vergleichbaren Angebot steigt das Interesse an Onlinekäufen auch von Obst und Gemüse, Milch, Wurst oder Brot jedoch spürbar und bahnt damit dem E-Commerce auch im Lebensmittelhandel einen Weg. Bis 2020 könnte sich der Marktanteil von Onlinebestellungen von derzeit unter einem Prozent auf vier bis sechs Prozent vervielfachen. Damit wären rund 15 Prozent der Standorte von Vollsortimentern gefährdet; rund 2.000 Märkte stünden auf dem Spiel. "Eine Bedrohung, die nicht unterschätzt werden darf", sagt Rainer Münch, Partner bei Oliver Wyman und langjähriger Branchenkenner.
Nur jeder Fünfte findet die Produktqualität im Supermarkt besser
Verstärkt wird das Risiko auch dadurch, dass die neuen Angreifer sich konsequent Frischekompetenz aneignen - allen voran Amazon. Mit dem geplanten Kauf von Whole Foods kann der Onlinegigant sich einen Frische-Champion mit Expertise in Kühlkette, Bezug von Frischware und Eigenmarkenkompetenz einverleiben und seinen hocheffizienten, zentralisierten und technologiebasierten Handelsansatz damit verbinden (mehr dazu hier). Münch sieht Vollsortimenter wie Discounter unter Zugzwang: "Frische ist die Achillesferse für den stationären Handel - und gleichzeitig die Speerspitze. Sie ist seine angestammte Bastion und entfaltet eine besondere Anziehungskraft. Bei unzureichender Qualität ist sie jedoch auch ein entscheidender Treiber für Unzufriedenheit und damit das Einfallstor für neue Anbieter", sagt er. Die Umfrage belegt diese Ambivalenz. Vier von fünf Bundesbürgern wollen danach auch künftig in Läden einkaufen, da sie dort Produkte anfassen und auswählen können. Hinzu kommt die Möglichkeit, Produkte sofort mitnehmen zu können sowie das Einkaufserlebnis. Dagegen erklären nur 20 Prozent, dass die Qualität im Supermarkt auch nachhaltig besser sei.
Jens Torchalla, ebenfalls Partner bei Oliver Wyman, erklärt: "Gerade die großen Händler stehen vor einer Herkulesaufgabe. Es reicht nicht aus, nur in Flagship Stores oder ausgewählten Märkten eine Frische der Weltklasse zu demonstrieren. Die Händler müssen vielmehr in der vollen Breite ihres Filialnetzes eine exzellente Leistung sicherstellen, um sich gegen den Angriff aus dem Netz zu wehren."
Systemübergreifender Ansatz für mehr Frische
Den erforderlichen Quantensprung in Sachen Frische ermöglicht ein funktionsübergreifender Ansatz, der sechs Bestandteile umfasst:
- Optimale Produktqualität bis ins Regal. Diese gewährleistet ein rigoroses Lieferantenmanagement, eine konsequente Temperaturführung, effektive und risikobasierte Qualitätsprüfungen sowie ein durchgängiges Verständnis von Spezifikationen entlang der gesamten Supply Chain.
- Die richtigen Mengen zur richtigen Zeit. Mit dem optimalen Gleichgewicht von Automatisierung und Markteingriffen im Bestellprozess samt kurzer Vorläufe und einer integrierten Warenflusssteuerung lässt sich der Frischegrad flächendeckend spürbar erhöhen.
- Kollaboration statt Konfrontation mit Lieferanten. Allein durch eine verbesserte Zusammenarbeit mit Frischwarenlieferanten - von der integrierten Prognoserechnung über die Gesamtkostenbetrachtung in der Supply Chain bis hin zur gemeinsamen Sortimentsüberarbeitung - lassen sich im deutschen Lebensmittelhandel pro Jahr 1,2 bis 1,8 Milliarden Euro einsparen.
- Das perfekte Sortiment für jeden Standort. Mit filialindividuellen Sortimenten und einer Regionalisierung des Angebots können gerade Vollsortimenter lokale Nischen besetzen und schon damit ihre Kundenzufriedenheit und Umsätze signifikant steigern.
- Die optimale Präsentation. Dazu zählt eine umsatzgerechte Abteilungsgröße je Markt, und eine filialindividuelle Verteilung des Regalplatzes je Artikel ebenso wie passende Losgrößen bei der Belieferung und das lokal passende Angebot an Frischetheken.
- Exzellente Umsetzung in den Märkten. Klar definierte Best Practice-Prozesse von der Warenannahme bis zur Regalpflege, faire Leistungsziele je Markt, umfassende Schulungen sowie ein einheitliches Frischeverständnis der Mitarbeiter stellen einen überzeugenden Frischeauftritt sicher.
Entscheidend ist eine funktionsübergreifende Vernetzung über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Die Zeiten singulärer Projekte zur Steigerung des Frischegrads sind vorbei, erfordert ist ein integriertes Vorgehen im Team. Mit einer überzeugenden Frischeleistung lasse sich nicht nur die Kundenzufriedenheit steigern, weiß Torchalla: "Frische bietet ein enormes Umsatzpotenzial." Erfahrungen von Oliver Wyman zufolgen können Einzelhändler ihre Umsätze mit einem optimierten Frischwarensortiment innerhalb von zwei bis drei Jahren um bis zu zehn Prozent steigern und ihre Profitabilität deutlich erhöhen. "Ohne einen Quantensprung in der Frischeleistung überlässt der stationäre Handel Anbietern wie Amazon Fresh das Feld", warnt Münch.
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