„China ist ein hart umkämpfter Markt“, sagt Renata Thiébaut. Trotzdem scheint das Unternehmen mit Hauptsitz im Ruhrgebiet Ellbogen bewiesen zu haben und verkauft dort mittlerweile erfolgreich. Die Professorin für E-Commerce und China-Expertin an der GISMA University for Applied Sciences arbeitete von 2017 bis 2021 als Beraterin für Aldi. Sie war bei Markteintritt dabei und blickt mit uns zurück.
Renata, in Europa kennt man Aldi fast ausschließlich als stationären Lebensmitteleinzelhändler. Jetzt streckt das Unternehmen seine Fühler auch in Richtung China aus. Dabei ist die Konkurrenz dort groß, oder?
Es gibt dort alle großen Supermärkte und Einzelhändler*innen: Cosco, Walmart, Mantra. Beim Markteintritt musste Aldi also zunächst einmal überlegen: Was wollen unsere Kund*innen und wie können wir uns von unseren Mitbewerber*innen abheben?
Aldi orientierte sich in Richtung E-Commerce. Du warst in die strategischen Überlegungen involviert. Wie seid ihr an die Umsetzung herangegangen?
Genau, zwei Jahre lang lag der Fokus auf Online. Hier trifft man den Großteil der potenziellen Kundschaft. Das Unternehmen wollte in dieser Zeit vor allem herausfinden, wie der Handel dort tickt. Mithilfe eines Onlineshops und der Alibaba-Plattform wollten wir zunächst den Markt erkunden, die Bedürfnisse der Verbraucher*innen verstehen und auch herausfinden, wie wir unsere Qualität und zeitgleich unsere kostengünstigen Preise im Vergleich zur Konkurrenz auf dem chinesischen (Online-)Markt platzieren können. Außerdem ging es darum, die Produktpalette – auch geschmacklich – an die chinesische Kundschaft anzupassen. Mit lokalen Expert*innen arbeitete man außerdem zusammen, um zu erkunden, wo sich stationäre Geschäfte lohnen.
Und für das Konzept gab’s auch den Innovationspreis von der Alibaba Group. Was war das Besondere?
Es war ein ganz anderer Ansatz als Aldi ihn in Europa verfolgt. Sonst geht es vorrangig um die Sortimentsplanung und darum, sich mit (eigenen) Produkten möglichst breit aufzustellen. Wir haben uns von dieser routinierten Vorgehensweise verabschiedet, da wir nicht wussten, ob die Waren überhaupt gewünscht sind. Wir haben also in dem ersten Store, der 2019 eröffnete, auf Digitalisierung gesetzt und ein SaaS-System implementiert. Mithilfe verschiedenen Touchpoints im Laden konnten wir das Kund*innenverhalten besser messen und haben so viele Informationen über unsere Verbraucherinnen und Verbraucher sammeln können. Gleiches haben wir online über die Alibaba-Plattform und sozialen Medien gemacht.
Wie genau habt ihr die Daten, denn gesammelt?
In dem von uns aufgebauten System sammelten wir Daten aus der Alibaba-Datenbank. Diese ist für alle Händler*innen verfügbar. Hier kann man Branchendaten und Daten zum Verbraucherverhalten, z. B. Milchverkäufe auf Alibaba-Marktplätzen in verkauften Einheiten und Umsatz pro Monat, umsatzstärkste Milchsorten, umsatzstärkste Größen, umsatzstärkste Produkte nach Preisklasse und mehr abrufen. Aldis eigene Daten kamen dabei, wie gesagt, aus dem Onlineshop, dem Ladengeschäft und den sozialen Medien. Wir haben all diese Daten zusammengeführt, um Kaufentscheidungen besser zu verstehen und das Verbraucher*innenverhalten zu erfassen.
Was konntet Ihr so über das Kund*innenverhalten herausfinden?
Ein Beispiel: Die meisten Händler*innen bieten Milch in Ein-Liter-Packungen an. Durch unsere Datenanalyse haben wir herausgefunden, dass 80 Prozent der chinesischen Kund*innen die 250-Milliliter-Variante bevorzugen, da sie die Packung so leichter den ganzen Tag mit sich tragen können. So haben wir unser Milch-Angebot angepasst. Ebenso haben wir uns größtenteils von unseren Eigenmarken verabschiedet, da sie in China nicht als solche wahrgenommen werden, sondern neu wirken und mit anderen bereits bekannten lokalen Marken konkurrieren.
Dafür haben wir herausgefunden, welche Importmarken besonders gefragt sind und haben diese ins Sortiment genommen. Aptamil-Säuglingsnahrung ist so beispielsweise bei Aldi gelandet. Ein weiteres Ergebnis: Aldi bietet eine Lieferung innerhalb von 25 Minuten an. Damit unterbietet man Mitkonkurrent*innen.
Ich muss sagen: Diese Anpassung an die Bedürfnisse der Kundschaft ermöglichen uns die Daten, die wir stetig an den verschiedenen Touchpoints sammeln. Anders wäre diese Entwicklung kaum möglich, denke ich.
Ähnliche Ansätze gibt es beim Discounter in Europa, allerdings läuft hier vieles noch deutlich analoger. Woran liegt das?
Das Alter spielt hier eine Rolle. Aus Deutschland zum Beispiel höre ich immer wieder, dass der technologische Fortschritt aufgrund der alternden Bevölkerung stockt. Ich glaube allerdings nicht, dass dieser Fakt ausschlaggebend ist, denn auch in China leben ältere Leute. Sie haben gelernt, Neuerungen für sich zu nutzen. Nahezu 95 Prozent der Bevölkerung bewegen sich online. Mit Alipay und WeChat zahlen 1,3 Milliarden Menschen im Land, dazu gehören auch die Älteren. China ist anderen Ländern hier etwa fünf Jahre voraus.
Also geht es darum, Systeme zu schaffen, mit denen man auch ältere Menschen digital abholt?
Genau, Tools, die leicht zu bedienen sind. Das könnte, meiner Meinung nach, auch in anderen Märkten funktionieren: Shared-Konten sind hier eine Möglichkeit. Ältere Eltern und Kinder können sich beispielsweise ein Konto teilen. Das geht bei WeChat oder Alipay. So baut man hier mögliche Bedenken und Barrieren ab.
Glaubst du, dass der Westen China in Sachen Bezahlmöglichkeiten irgendwann einholt?
Ich befürchte, dass das durch die Datenschutzbestimmungen tatsächlich schwierig wird. In China kannst du via Gesichtsscan oder mit deiner Handfläche bezahlen, selbst, wenn du mit der U-Bahn fahren möchtest. Das kann ich mir in Deutschland oder Europa schwer vorstellen. Trotzdem hat man den Eindruck, dass von den Chines*innen gelernt werden möchte, vor allem, wenn es um Omnichannel und die optimale Customer Experience geht.
Bei diesen Themen spielt auch die Bequemlichkeit der Kundschaft eine Rolle. Vielleicht sogar eine größere als der Wunsch nach Privatsphäre. Könnte es in Zukunft sogar zur Aufweichung der Datenschutzrichtlinien kommen?
Das glaube ich nicht. Die Menschen legen immer noch sehr großen Wert auf ihre Privatsphäre, auch digital. Sie wollen ihre personenbezogenen Daten ungern preisgeben. Aber grundsätzlich schließt das eine das andere ja nicht aus. Es gibt in westlichen Gebieten durchaus Store- und Bezahl-Konzepte, die ähnlich sind wie die in China. Das Wichtigste für alle Händler*innen ist immer noch: Findet heraus, was sich eure Kundschaft wünscht, so werdet ihr erfolgreich.