Gestapelte Stühle, geschlossene Türen: Die Corona-Pandemie hat das Innenstadtleben vor eine harte Probe gestellt. Zwar konnten To-Go-Angebote und Konzepte wie Click&Meet den Einzelhandel vorübergehend über Wasser halten – doch wie standfest sind Innenstädte auf Dauer? Das hat das Fraunhofer IAO gemeinsam mit zahlreichen Innovationspartnern in Rahmen der am 26.07.2021 erscheinenden Studie #ELASTICITY untersucht. Wir haben vorab einen Blick auf die Ergebnisse der Studie geworfen.
Der Brennglas-Effekt ist in aller Munde. So hat die Pandemie all jene Herausforderungen sichtbar gemacht, denen Innenstädte sich bereits seit Jahren stellen müssen. Der Konkurrenzdruck durch ein steigendes Angebot im E-Commerce wächst, Same-Day-Deliveries bis vor die Haustür nehmen Fahrt auf.
Dabei ist jedoch nicht zu vergessen, dass sich der öffentliche Raum stets im Wandel befindet und von diesem lebt. So gilt es, sich daraus ergebene Chancen zu nutzen, um den öffentlichen Raum wieder lebhaft, attraktiv und standfest zu gestalten.
Wie genau ein solcher Raum aussehen könnte, zeigen die Ergebnisse der konzeptionellen Studie #ELASTICITY. Gemeinsam mit mehreren Innovationspartnern hat das Fraunhofer IAO zunächst die Bedürfnisse all derjenigen ermittelt, die am Innenstadtleben beteiligt sind. Darauf aufbauend wurde ein Konzept aus maßgeblichen Handlungsfeldern entwickelt, die das Entfaltungspotential und den wesentlichen Handlungsbedarf öffentlicher Räume abbilden.
Hauptergebnisse der Studie: Weg von starren Strukturen, hin zu Flexibilität
Insgesamt ist der Wunsch nach einem Wandel in der Struktur und der Betreibung von öffentlichem Raum in der Bevölkerung hoch: So zeigen die Studienergebnisse, dass fast drei Viertel der Befragten (72%) Veränderungen in Innenstädten befürworten. Ein noch größerer Anteil (82%) spricht sich dabei für mehr zeitliche und räumliche Flexibilität in der Aufmachung von und den Angeboten in Innenstädten aus.
Grundsätzlich basiert die Studie auf der Annahme, dass die Digitalisierung einen generellen Strukturwandel in der Gestaltung unserer Innenstädte herbeiführen wird.
Dabei spielen in den Innenstädten folgende Punkte eine wichtige Rolle:
- Zivilgesellschaftliche Relevanz
- Bauliche Relevanz
- Wirtschaftliche Relevanz
- Verkehrstechnische Relevanz
Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, gehen die Studienautoren davon aus, dass es zu grundsätzlichen Änderungen und neuen Verantwortungen in bestimmten Bereichen der Stadtgestaltung und -planung kommen wird. Dafür haben sie zwölf konkrete Zukunftsfelder herausgearbeitet.
Die zwölf Zukunftsfelder
- Der Aspekt der Baukultur spielt dabei eine identitätsstiftende Rolle für das kulturelle Selbstverständnis von Städten. Hierbei wird es zukünftig um ressourcenschützende und energieeffiziente Architektur sowie nachhaltige Materialen gehen. Diese sollten Nutzungsänderungen zulassen und sich adaptiv erweitern lassen.
- Mobilität und Logistikverkehr sind grundlegend für das Leben im öffentlichen Raum. In Zukunft wird ein digital gesteuertes, barrierefreies und intermodales System dominieren, das bisherige Hemmnisse überwindet und Flächen für weitere Nutzungen freimacht.
- Flexible Flächen, die sich an temporäre Bedürfnisse anpassen und Platz für zeitlich begrenzte Nutzungen lassen, sorgen für Neuerung und mehr Zufriedenheit.
- Eine Weiterentwicklung der städtischen Erlebniswelt wird durch einen Pop-up-Charakter des Einzelhandels, der Gastronomie und der Kulturwirtschaft charakterisiert. Das Konzept orientiert sich an flexiblen, temporären Angeboten.
- Die Infrastruktur wird sich immer mehr an zwischenmenschlicher Kommunikation orientieren und sich flexibel an die Wünsche der Besucher/Anwohner anpassen lassen.
- Die Teilhabe an der Gestaltung des öffentlichen Raumes wird in Zukunft für alle Stadtbewohner möglich sein.
- Öffentlicher Raum wird zudem zu einem Ort der spielerischen, generationenübergreifenden Interaktion, an dem alle Teilhabenden eine abwechslungsreiche Freizeit gestalten können.
- Auf Ebene der Nachbarschaft werden Arbeits-, Konsum- und Lebenswelten so miteinander verknüpft, dass Wege verkürzt und Nutzungsvielfalten gesteigert werden können.
- Digitalisierung ist das Stichwort für jegliche Änderungsprozesse. Sie ermöglicht ein ganzheitliches digitales Abbild der analogen Welt und wirkt als Betriebssystem und Planungstool der weiteren Zukunftsfelder.
- Produktion wird zurück direkt in den Ort verlagert, in dem Ressourcen gebraucht werden. Lokalität und Regionalität sind hier essentielle Stichworte, um Lieferwege zu verkürzen und um Ressourcen einzusparen.
- Flächeneinsparung ist der Grundpfeiler für einen effizienten urbanen Lebensstil und erweitert den Raum für kommunale Infrastruktur.
- Zuletzt liegt im Hinblick auf die Zukunft das Hauptmerkmal bei Klimaschutz und der Nutzung naturbasierter Lösungen zur Anpassung an äußere Umwelteinflüsse.
Die Studie #ELASTICITY ist ab dem 26.07.2021 in voller Länge beim Fraunhofer IAO einzusehen.
Erste Pilotprojekte laufen
In Stuttgart, Hanau und Leverkusen werden derzeit erste Realexperimente durchgeführt, die sich an den Punkten Mobilität, Steigerung der Aufenthaltsqualität und flexibler Flächennutzung orientieren.
Dafür wurde beispielsweise in Leverkusen Stadtmobiliar aufgestellt, das die Atmosphäre in der Innenstadt verbessern soll. In Stuttgart wurden sogenannte Mobiliy Hubs – Umsteigestationen zwischen verschiedenen Fortbewegungsmitteln – eingeführt, die die innerstädtische Mobilität flexibler gestalten sollen. In Hanau wird eine Art Dating-Prinzip ausprobiert: Flächeninhaber können ihre freie Fläche teilen und von Stadtgestaltenden „gematched“ werden. Somit soll bestehender Raum leichter nutzbar gemacht und an die Bedürfnisse der Bewohner angepasst werden.
Voraussichtlich werden die Pilotprojekte gegen Ende des Jahres/Anfang nächsten Jahres abgeschlossen sein. Insgesamt werden die „Reallabore“ als Ort für spielerische Gestaltungsprozesse angesehen.